Die heitere Dorfversammlung
Von Peter Liebenrain
Allgemein wird bedauert, dass die Gemeindeversammlungen in Stadt und Land aus Gleichgültigkeit an öffentlichen Angelegenheiten schlecht besucht werden und dass bei der Aussprache so wenig herauskommt. Anders war es in der vorhergehenden Zeit, soweit es den Versammlungsbesuch betrifft. Alles was Beine hatte, fühlte sich aus Angst vor empfindlichen Folgen zum Erscheinen verpflichtet.
Am späten Nachmittag eines sommerlich heißen Tages stand also auch die Milser Bevölkerung vor dem Gemeindedreschtennen zum Empfang des Kreisleiters bereit. Es war am 17. Mai 1944, also im vorletzten Kriegsjahr. Die Musikkapelle war wegen der vielen Einberufungen nicht mehr zum Ausrücken fähig, aber die noch vorhandenen Schützen, S.A., Arbeitsfront, Reichsnährstand und Hitlerjugend waren angetreten. Wer zum Tragen einer Parteiuniform verpflichtet war, schwitzte seufzend in der engen Kluft. Es wurde 5 Uhr, halbsechs Uhr, aber der angesagte Besuch kam nicht. Endlich knapp vor sechs sauste das Auto heran. Das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied klangen aus rauen Kehlen. Der Kreisleiter schritt die Front der Schützen ab und hielt sodann seinen Vortrag über das notwendige Durchhalten bis zum Endsieg. Er sparte nicht an Lob über die ausgerückten Schützen, um seine bitteren Worte von der Notwendigkeit weiterer und schwererer Opfer zu versüßen. Zum Schluss fragte er leichthin, ob sich jemand zum Worte melde. Sicherlich geschah das nicht im Ernst. Im allgemeinen getraute sich doch niemand den Mund aufzutun, wenn solche Hoheiten sprachen.
Unerwarteter Weise meldete sich der Schützenhauptmann: „Ich muss sagen, dass die Milser Schützen beim Landesschießen nichts zum Trinken bekommen haben. Andere Abteilungen sind mit Wein und Bier bewirtet worden. Für die Milser ist nichts mehr da gewesen. Indem dass die Schützen verärgert sind, wollen sie nimmer zuechergehn. Ich kann nicht gutstehn, dass die Milser ausrücken werden, wenn wieder was los ist in der Stadt oder am Schießstand!“
Der Kreisleiter hofft mit ein paar begütigenden Worten darüber hinwegzukommen. „Bei einem so großen Fest ist das leider leicht möglich. Ich werde trachten, dass die Milser das nächste Mal nicht zu kurz kommen.… Wer meldet sich sonst noch zu Wort?“ — Diesmal trat einer aus der Hitlerjugend vor. „Ich muss sagen, dass wir nichts zum Spielen haben. Wir brauchen unbedingt einen Fußball!“ Alles lachte, auch der Kreisleiter: „Den Fußball sollt ihr haben. Den werde ich selber euch schenken“ —Gleich darauf begann der Schützenhauptmann neuerdings: „Indem, dass die Schützen verärgert sind und nimmer zuecher gehen wollen, muss ich bitten, dass die Milser den Wein, der ihnen gebührt hat, nachträglich bekommen. Ich kann sonst nicht mehr gutstehn…“—„Also, wenn es so sein muss, sollt ihr den Wein haben. Ich selber werde euch ein Fasst schicken. Hat sonst noch jemand ein Anliegen?“ — Diesmal begann ein Hitlermädl: „Wenn die Buben schon einen Fußball bekommen, muss ich auch um etwas bitten. Wir haben nichts zum Spielen. Mindestens zehn Puppen brauchen wir!“ — „Auch die zehn Puppen sollt ihr haben. Ich persönlich schenke sie euch. Aber jetzt ist Schluss mit den Wünschen!“ Jedoch der zähe Schützenhauptmann ließ nicht locker. Er kannte den Wert solcher Versprechungen. „Indem, dass die Schützen verärgert sind und nimmer zuecher gehen wollen, kann ich für nichts gutstehn, wenn der Wein nicht bald da ist!“
Dem Kreisleiter wurde es unbehaglich. „Ich schicke euch das Fass Wein heute noch! Aber jetzt muss ich eiligst fort. Ich sollte schon längst in Fritzens sein!“ Damit flüchtete er nach kurzem Hitlergruß in sein Auto, während der Schützenhauptmann neuerdings ersuchte, den versprochenen Wein gewiss nicht zu vergessen, indem dass die Schützen und so weiter.… Das Brausen des Automotors, die Ruf der Jugend: „Auf den Fußball, auf die Puppen nicht vergessen!“ übertönte die letzten Worte des unerbittlichen Hauptmanns. Lachend ging die versammelte Gemeinde auseinander.
Was niemals ankam, waren Wein, Fußball und Puppen! Die Schützen hatten jedoch wenig Gelegenheit mehr, „zuecher“ zu gehen oder nicht. Die sich steigernden Luftangriffe verhinderten ohnehin jeden größeren Schützenaufmarsch. Auch der Volkssturm brauchte nicht in Aktion zu treten. Die Kommandostellen waren einsichtsvoll genug, der verlorenen Sache keine überflüssigen Menschenopfer darzubringen. Die zum letzten Kampf bereitstehende Flakbatterie verlor ihre Mannschaft in überstürzter Flucht, als die amerikanische Vorhut am Abend des 5. Mai 1945 nach kurzem Gefecht die Volderer Innbrücke überschritt. Manches Unglück gab es mit der jahrelang herumliegenden Munition, auch lagen bis zum Mai 1950 zerschlagene Autoreste im Dorf herum. Alles in allem war in Mils jedermann froh, dass die Gemeinde trotz einiger Bombenschäden so glimpflich dem Schrecken des Krieges entronnen war.
Quelle: Haller Lokalanzeiger vom 24.2.1951
Josef Waldner, 1.7.2017