MILSER GESCHICHTE(N)
bearbeitet und erzählt von Mag. Fritz Tiefenthaler
Die Heimkehr
Anfangs Mai jährt sich wieder das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa im Jahr 1945 – eines Kriegs, der durch eine verbrecherische Ideologie ausgelöst worden war, Millionen an Menschenleben gekostet hatte und mit der totalen Niederlage Deutschlands auch das Ende der Diktatur des Nationalsozialismus bedeutete. Abgesehen von den heute noch kaum fassbaren Verbrechen an Millionen von Menschen in Deutschland und seinen Nachbarländern, die im Namen des Nationalsozialismus in den wenigen Jahren zwischen 1933 und 1945 verübt wurden, – allein aus dem St. Josefsinstitut wurden am 10. Dezember 1940 69 behinderte Bewohner nach Hartheim/OÖ. „abtransportiert“ und dort als „unwert“ ermordet – ist den Führern des Regimes, aber auch den Generälen der Wehrmacht, die bedenkenlose Vernichtung einer ganzen Generation junger Menschen in Deutschland und Österreich anzulasten. Selbst jene, die ihrer Jugend beraubt, Krieg und Gefangenschaft überlebten, waren und sind von den Ereignissen gezeichnet. Von Kriegsbeginn bis zum Mai 1945 wurden 156 Milser einberufen. 114 Heimkehrern stehen 31 Gefallene und 11 Vermisste gegenüber.
Als Erzählung für seine Kinder und Enkel hat Franz Hauser, Grüneggerbauer, 1996 mit Hilfe seiner Tochter Veronika Kölli, seine Kriegszeit und die Geschichte seiner Heimkehr auf über 30 Seiten zusammengefasst. Wenn er auch – um die Erlaubnis der Nacherzählung gefragt -, großen Wert darauf legt, zu betonen, dass viele Milser Kriegsteilnehmer ein viel schwereres und tragischeres Schicksal erleiden und erdulden mussten, so sind seine in einfachen Worten gehaltenen Erinnerungen ein beeindruckendes Zeugnis für die Ereignisse im letzten Kriegsjahr und in den Wochen nach dem Waffenstillstand.
Franz Hauser
Jahrgang 1925, wurde im August 1942 gemustert und wurde zuerst als Landarbeiter und später wegen einer Herzerkrankung um Monate zurückgestellt. Ende September 1944 wird er aber zur Stammkompanie Geb.Fla.Ers.u.Aus.Btl(mot) 700 in Absam/Eichat einberufen und dem Nachrichtenzug zugeteilt. Die Kompanie ist Teil eines Bataillons der Leichten Fliegerabwehr, ausgerüstet mit 2 cm Maschinengeschützen, die auch im Erdkampf und im Gebirge einsetzbar sind. Die Mannschaft der Kompanie besteht zum Großteil aus gerade 17-jährigen jungen Burschen aus dem heutigen Westösterreich mit hauptsächlich Reichsdeutschem Führungskader. Fahrer, Versorger und Verwalter sind meist 30–40 jährige Männer.
Nach 2 Monaten Ausbildung wird die Einheit (160 Mann) am 6. Dezember 1944, also gerade 5 Monate vor dem Kriegsende, per Bahn an die heutige österreichische Grenze im nördlichen Burgenland transportiert und dort einquartiert. Mit ihren „Gastgebern“, einer kroatisch-burgenländischen Familie feiern die Mitglieder des Funktrupps den Heiligen Abend, bevor die Kompanie zwei Tage später nach Györ (Ungarn), am 1. Jänner 1945 nach Komaron (Südslowakei) und schließlich nach Krugina verlegt wird. Die Kompanie wird als schnelle Eingreiftruppe im gesamten Frontbereich eingesetzt und beklagt die ersten Gefallenen.
Ende Februar verlegt die Einheit weiter nach Norden in die Mittelslowakei in Stellungen entlang des Granflusses. An seinem Ostufer bereitet die Rote Armee zu der Zeit gerade eine Großoffensive vor, der die einst so gefürchtete Wehrmacht nur wenige Einheiten entgegenstellen kann. Beim bald einsetzenden Rückzug der deutschen Einheiten sind die Überlebenschancen Hausers als Mitglied des Nachrichtenzugs – wie er selbst schreibt – weit besser als jene der Geschützbesatzungen oder gar die der einfachen Infanteristen in den vordersten Linien. Nach und nach gehen die Fahrzeuge der einzelnen Züge der nun oft weit auseinander gezogenen Kompanie verloren und müssen durch requirierte Pferdegespanne ersetzt werden. Immer knapp vor den vorrückenden russischen Truppen weichen die einzelnen Teile der Kompanie mit oft schweren Verlusten weiter nach Nordwesten zurück und erreichen den Südwesten der heutigen Tschechei, wo der Druck der Offensive wegen der Konzentration der sowjetischen Truppen auf die Schlacht um Wien zumindest für kurze Zeit etwas nachlässt.
Obwohl bereits bekannt ist, dass sich in Wien am 10. April eine österreichische Regierung gebildet hat, werden die Soldaten noch am 25. April, nach dem Selbstmord Adolf Hitlers in Berlin, in Grußbach bei Znaim, knapp nördlich der österreichischen Grenze, auf die neue deutsche Regierung Dönitz zwangsvereidigt.
Am 7. Mai 1945 wird den Soldaten das Ende des Krieges mitgeteilt, sie erhalten den Wehrpass und werden aus der Einheit entlassen. Jeder sei nun auf sich allein gestellt. Obwohl Franz Hauser anfänglich annimmt, dass alle Soldaten, die sich bei Kriegsende noch nicht in Gefangenschaft befinden, nach Hause gehen könnten, muss er bald erkennen, dass sowohl in Tschechien als auch später in Österreich rückflutende Soldaten von verschiedensten Gruppen gefangen genommen werden und auch von den Westalliierten den sowjetischen Truppen übergeben werden. Viele, die bereits geglaubt hatten, den Krieg nun überstanden zu haben, kehrten nie nach Hause zurück.
Nach dem Überschreiten der Grenze bei Raabs an der Thaya erreicht Hauser mit seinen Fluchtgefährten Freistadt, wo sie von einem ehemaligen jugoslawischen Kriegsgefangenen festgenommen und zu einem Sammellager in der Stadt gebracht werden, aus dem sie kurz darauf entfliehen können. Auf der Fahrt nach Linz treffen sie auf die ersten amerikanischen Soldaten, die sie an der Weiterfahrt hindern und wieder in ein Sammellager auf einer Wiese umgeleitet werden, auf dem sich bereits geschätzte 10.000 Wehrmachtssoldaten mit an die 300 Fahrzeugen befinden. Hauser glaubt den vielen Gerüchten über Passierscheine oder eine Allianz mit den Amerikanern nicht und beschließt mit seinem Salzburger Freund Herbert Graml, in der zweiten Nacht aus dem Lager auszubrechen. Einen Tag später wird das Lager von den Amerikanern den Russen übergeben. Eine Massenflucht verhindern die US-Truppen mit Waffengewalt und mehreren Dutzend Toten und Verwundeten.
Mit Hilfe eines Kompasses mit Leuchtzeigern, den ihm sein Vater noch vor einigen Monaten geschickt hatte – Franz Hauser sen. war 1918 aus russischer Kriegsgefangenschaft aus Sibirien quer durch den russischen Bürgerkrieg nach Österreich geflüchtet – erreichen die Männer das Ende des das Lager umgebenden Waldes und müssen erkennen, dass die bisherige besonders vorsichtige Fluchtart nur während der Nacht kaum Erfolg versprechend sein wird. Einer weiteren Festnahme während einer Kontrolle durch amerikanische Soldaten entgehen die Beiden durch die Gutmütigkeit des verantwortlichen Sergeants. Die vielen nassen Stellen, die im Wald in der Nacht durchwatet werden mussten, führen zu offenen Wunden an den Füßen, die das Gehen maßgeblich erschweren. Nach der Übernachtung bei einem mitfühlenden Wirt erreichen sie einen Fährstützpunkt über die Donau in der Nähe von Eferding. Mit zehn anderen ehemaligen Soldaten, die plötzlich aus dem Unterholz drängen, überqueren sie den Strom, entgehen am Ufer einem Überfall durch ganz normale Straßenräuber und ziehen dann allein weiter Richtung Westen. Franz Hauser betont in seinen Aufzeichnungen die besondere Freundlichkeit der oberösterreichischen Bauern und ihre Gastfreundschaft. Einmal hätte ihm ein Bauer sogar das Angebot gemacht, am Hof zu bleiben, ein Angebot das wegen des besonders hübschen „Töchterchens“ nicht uninteressant gewesen wäre. Sie begegnen aber auch immer wieder Männern, die sich offensichtlich nicht als ehemalige Soldaten verstecken, darunter 3 gut gekleidete, ehemalige Mitglieder der Gestapo (Geheime Staatspolizei) in Berlin. Über Strasswalchen erreichen sie schließlich Seekirchen, von wo sie ein Milchsammelauto nach Salzburg mitnimmt, wo sich Herbert Graml von Franz Hauser verabschiedet, um Richtung Pongau weiter zu gehen. Er selbst versucht es über das kleine deutsche Eck, wo er bald einen Südtiroler trifft, mit dem er nun gemeinsam versucht, nach Tirol durch zu kommen. Vorbei an verschiedenen Kontrollposten müssen sie weit oberhalb des Salaachsees mit seiner engen Uferstraße in einen sandigen Steilabbruch mit einem Stock Tritte auskratzen, um die Engstelle zu überqueren.
Wenige Kilometer danach – es ist inzwischen der 16. Mai 1945 – treffen sie auf einer Anhöhe in einem kleinen Weiler auf ein voll intaktes und voll bewaffnetes SS-Bataillon. Zur Verwunderung Hausers erkundigt sich der kommandierende Offizier, ein SS-Sturmbannführer, bei ihm, den einfachen Ex-Soldaten, über die dem Bataillon verbleibenden Möglichkeiten. Nach der Verabschiedung durch den Offizierstrupp steigen er und sein Begleiter zu Hochwasser führenden Saalach ab, finden aber vorerst keinen Übergang, weil die Brücken gesprengt worden waren. Die einzige intakte Brücke führt in ein von Amerikanern besetztes Kasernengelände. Beim Versuch die Brücke zu überqueren, werden sie von einem amerikanischen Offizier entdeckt und zu den Baracken verwiesen. Im toten Winkel gelingt es ihnen Richtung schützendem Wald davon zu laufen und so erreichen sie schließlich die Tiroler Grenze am Pass Strub, wo sie auf die Nordseite wechseln, auf einer Aste eine Kuh melken und schließlich in einem weiten Bogen den nicht sehr aufmerksamen Kontrollposten einer Hilfspolizei umgehen. Am Abend erreichen sie Söll, wo im Talboden in einem bewachten Auffanglager mein damals gerade erst 17-jähriger Vater gefangen gehalten wird und wahrscheinlich über seine spätere Flucht nach Hause nachdenkt.
Nach einer Nacht bei einem Bauern in Itter, wo sie vom noch immer am Hof arbeitenden jugoslawischen Zwangsarbeiter, trotz ihrer Furcht an die Amerikaner verraten zu werden, äußerst freundlich behandelt werden, übersteigen sie, das Inntal meidend, mehrere Bergrücken, übernachten in Reith und überqueren schließlich über die Brücke der Zillertalbahn den Inn, während der Posten auf der Rotholzerbrücke gerade einmal in die falsche Richtung blickt. Amerikanische Soldaten , die in der Nähe von Jenbach an die Wand einer Scheune gelehnt die Maisonne genießen lassen sie unbehelligt ziehen und so kommen sie bis Vomperbach, wo sie auf ein Mittagessen eingeladen werden. Am Waldrand entlang geht es dann über Terfens und Fritzens nach Baumkirchen, wo ihnen im so genannten Gassl ein amerikanischer Soldat mit umgehängter Maschinenpistole entgegen kommt. „Er erschrickt sehr, als er uns sieht und er sieht auch unser Erschrecken“ schreibt Franz Hauser. Weil ein Entkommen im engen Gassl praktisch
unmöglich ist, entschließen sich die zwei, am Soldaten vorbei zu gehen. Sollte hier, direkt vor der eigenen Haustür die lange Flucht zu Ende und umsonst gewesen sein? Skeptisch einander beäugend drücken sie sich am GI vorbei und schließlich erreichen sie das Milser Haslach. Um 3 Uhr nachmittags am Pfingstmontag, dem 21. Mai 1945 marschieren sie die „Haslachgassn“ Richtung Grünegg und finden den heimatlichen Hof noch immer von einzelnen Mitgliedern jener Flakeinheit bewohnt, die hier 2 Wochen vorher den Krieg beendet hatte und (Anm.: Autor) bei der Befreiung Innsbrucks durch den österreichischen Widerstand durch ihr Nichteingreifen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte.
Eigentlich lebt Franz Hauser als Ex-Wehrmachtssoldat mehrere Monate, wie er schreibt, „illegal zu Hause und damit immer noch in Gefahr, gefangen genommen und an die Russen ausgeliefert zu werden. Erst am 14. August werden er und viele andere Kriegsteilnehmer von der Französischen Besatzungsarmee visitiert und offiziell aus der Wehrmacht entlassen.
Quelle: Dorfblatt Mils 06–2009, PDF-Download