MILSER GESCHICHTE(N)
bearbeitet und erzählt von Mag. Fritz Tiefenthaler
Die Milser Wallfahrt
Recht unspektakulär und einfach haben Pfarre und Gemeinde Mils bisher eines Ereignisses gedacht, das Mils wesentlich mitbestimmt hat und noch vor hundert Jahren Anlass großer 3‑tägiger Jubiläumsfeierlichkeiten war.
Der Überlieferung nach fanden Milser Bauern 908 (andere Quellen sprechen von 992 oder noch später) bei Holzarbeiten am Weg von Mils nach Baumkirchen in einer Eiche ein Marienbild, das in den folgenden Jahrhunderten als wundertätig verehrt wurde. Die ungefähre Auffindungsstelle war Jahrhunderte durch das sogenannte „Bildstöckl“, das in seiner heutigen Form im Rahmen der Grundzusammenlegung von Franz Hauser initiiert wurde, gekennzeichnet.
Die Auffindung des Milser Gnadenbildes durch drei Milser Bauernburschen beim Fällen einer Eiche. Dieses Foto ist ein Ausschnitt von unserem Hochaltarbild.
Bei vielen Wallfahrten spielen Auffindungen oder Erscheinungen in Bäumen eine wichtige Rolle. Dabei mögen auch alte Überlieferungen und Kulte eine wichtige Rolle gespielt haben. Genauso berechtigt ist aber auch die Annahme, dass ein Marienbild tatsächlich im Stamm einer Eiche entdeckt wurde. Noch am Beginn des 19. Jahrhunderts beschreibt der verdiente Milser Pfarrer Dr. Johannes Popp (dessen Aufzeichnungen wichtige Grundlagen für die weiteren Bearbeitungen sein werden), dass Ende März 1797, als ein Einmarsch der Franzosen über den Brenner drohte, die Milser Bevölkerung im Wald und an den Berghängen Schutz suchte und Wertgegenstände versteckte oder im Wald vergrub.
Es kann daher angenommen werden, dass auch schon viel früher, vor allem in den unruhigen Zeiten, als verschiedenste Völker um den Siedlungsraum im Inntal und Etschtal stritten oder auf dem Weg nach Italien unser Land durchstreiften, Heiligtümer und Wertgegenstände von der bereits ansässigen Bevölkerung versteckt und – nach der möglichen Vertreibung durch die neuen Herren – zurückgelassen wurden. Die Art der Besiedlung unseres Raumes durch die aus dem Alpenvorraum eindringenden Bajuwaren (von 550 bis 800) ist kaum bekannt, gelegentliche frühere und spätere Einfälle von marodierenden oder durchziehenden Gruppen (Goten, Langobarden und Franken) sind auch auf Grund schwerer Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen sehr wahrscheinlich. Am schlimmsten von solchen kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen war immer wieder die bereits sesshafte Bevölkerung. Die grausame „Ausrottung“ von Teilen der rätoromanischen Bevölkerung im Etschtal durch die Franken mag hier als Beispiel gelten, auch wenn die unterschiedlichen Namensschichten – romanisch wie „Planitz“ und germanisch „Eben“ – eher für eine friedlichere „Landnahme“ unseres Raumes durch die Bajuwaren sprechen. Die eher unwahrscheinliche Auffindung bereits im 10. Jahrhundert würde in jene Zeit fallen, in der das Inntal, der Brenner und das Eisacktal als Teil des Herzogtums Bayern zum Ostfränkischen Reich gehörten, die Bewohner der Täler trotz der Ungarngefahr relativ friedliche Zeiten erlebten, ihr Siedlungsraum aber als der direkte Weg nach Oberitalien regelmäßig von bayrischen und fränkischen Heeren durchzogen wurde.
Ob die Milser Wallfahrt in den folgenden Jahrhunderten über den regionalen Bereich hinaus von großer Bedeutung war, ist nicht bekannt. In seinem 2001 erschienenen Werk „Geschichte der Kirche in Tirol“ schreibt der Tiroler Kirchenhistoriker Josef Gelmi, es habe vor dem 14. Jahrhundert in Tirol 14 Wallfahrtsorte gegeben. Als wichtigsten Wallfahrtsort des Inntals im Mittelalter nennt er aber St. Georgenberg.
Die frühe Nennung eines Pfarrers von Mils (1215) könnte aber ein Hinweis auf einen größeren Einzugsbereich der Wallfahrt sein. Zumindest darf aber angenommen werden, dass der lange andauernde Streit über den eigentlichen Hauptsitz der Pfarrer der Doppelpfarre Baumkirchen-Mils, die auch für die Filialkirchen in Mils und Gnadenwald zuständig waren und ihren Wohnort über viele Jahrzehnte nach Mils verlegten, wesentlich von den Wallfahrtseinkünften mitbestimmt war.
Das eigentliche Gnadenbild dürfte allerdings bei einem der zahlreichen späteren Bayerneinfälle zerstört worden sein. Nach der Übergabe Tirols an die Habsburger durch die Tiroler Landesfürstin und Herzogin von Bayern Margarethe Maultasch (1363) und auch 1415 stießen bayrische Truppen nach Tirol vor und brannten die Dörfer um Hall nieder. Das Gnadenbild dürfte in den Folgejahren durch die heute noch verehrte gotische Madonnenstatue ersetzt worden sein. Wenige Jahre später (1447) gelobten die Bürger der Stadt Hall nach einem großen Brand einen jährlichen Bittgang nach Mils. Auch Prozessionen der Schwazer Bergknappen und von Stubaier Bauern führten zur Milser Mutter Gottes. Die Milser selbst aber gehörten laut Georgenberger Chronik (1480) zu jenen wenigen Pfarren (insgesamt 23 aus den Bistümern Freising, Salzburg, Chiemsee und Brixen), die jedes Jahr oder zumindest alle zwei Jahre in großer Prozession nach Georgenberg zogen.
Auch im Wallfahrtswesen gibt es ein dauerndes Auf und Ab. Einen Höhepunkt erreichte dieses im 15. Jahrhundert mit vielen Prozessionen und Besuchern aus der näheren und ferneren Umgebung. Ob die Milser Wallfahrt von den Bestrebungen des Brixner Bischofs Kardinal Nikolaus Cusanus, das Wallfahrtswesen neu zu regeln, betroffen war, ist mir nicht bekannt. Nikolaus Cusanus, einer der großen und einflussreichsten, aber auch umstrittensten Kirchenfürsten seiner Zeit, versuchte bereits 1453 auf der Brixner Synode unliebsame Nebenerscheinungen des Wallfahrtswesens zu bekämpfen und verfügte, dass Laien, bei angedrohter Exkommunikation, nur mehr mit Genehmigung des Bischofs oder des Pfarrers „wallfahren“ durften. Insbesondere verbot er die Wallfahrt zu den vielerorts verehrten „Bluthostien“. Das Milser Gnadenbild wurde allerdings 1500 mit einer Schenkung des Landesherrn, Maximillian I, bedacht. Er stiftete Samt und Schmuck zur Bekleidung des Gnadenbildes.
Die Zeit an der Wende zum 16. Jahrhundert war einerseits von einer gesteigerten Heilssehnsucht der Menschen und andererseits von Missständen in der pfarrlichen Betreuung, Sittenverfall und Aberglauben gekennzeichnet. Die Opferbereitschaft der Menschen bei ihrer Suche nach den Glaubensinhalten führte zu zahlreichen frommen Stiftungen (Milser Frühmessbenefiziat – Möltlsche Stiftung; 1490 durch den Schwazer Christian Möltl), Messen, Benefizien und Kirchenbauten. Andererseits blühten auch der Aberglaube und ein ausufernder Reliquienhandel. Ein beredtes Bespiel dafür sind Teile der Reliquiensammlung Florian Waldaufs, die 1501 aus dem Unterinntal im Beisein von 33.000 Menschen aus Tirol, Bayern und Schwaben nach Hall übertragen wurde. Waldauf zeigte in seiner umfangreichen Sammlung unter anderem auch Stücke des Schleiers Mariens, gefrorenes Eis aus der Geburtsnacht oder das Erdreich, aus dem Adam erschaffen worden war.
Die oft schlechte Betreuung der Gläubigen durch den kaum ausgebildeten niederen Klerus bot den aus Deutschland (Lutheraner) und der Schweiz (Wiedertäufer) kommenden Lehren einen fruchtbaren Boden. Auch in Mils fanden sich bei Visitationen häretische „lutherische“ Schriften. Mehrmals erwähnten die Visitatoren Belehrungen von Andersgläubigen. Geheimtreffen von „Wiedertäufern“ im Milser Wald dürften eher Bürger der Stadt Hall betroffen haben und wurden von der Obrigkeit streng verfolgt.
Im Zuge der Gegenreformation erlebte auch die Milser Wallfahrt einen neuen Aufschwung. Besonders die Serviten, die nach dem Brand ihres Klosters in Innsbruck für einige Jahre im Schloss Hirschenlust in Grünegg residierten, trugen wesentlich zur zunehmenden Bedeutung der Milser Wallfahrt bei. Der große Kirchenbrand vom 23. August 1791 setzte dieser Entwicklung ein jähes Ende. Neben der schwierigen Phase des Wiederaufbaus, in einer wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeit, war es vor allem die Erscheinung der Mutter Gottes in Absam am 17. Jänner 1797, die zu diesem Bedeutungsverlust beitrug.
Für die Menschen in Tirol stellte die wundersame Erscheinung in Absam ein besonderes Zeichen in einer Zeit der Not und Gefahr dar. Trotz der Zweifel und der Bemühungen auch der kirchlichen Obrigkeit, das Bild als natürliches Phänomen zu erklären, konnten keine Gründe für das plötzliche Auftauchen des Bildes im Fenster gefunden werden. Nach der Rückgabe des Bildes an die Besitzer wurde es noch am 24. März, während des allgemeinen Aufgebots, das heißt der Einberufung des Landsturms, in die Pfarrkirche Absam übertragen.
Die französische Revolution 1789 hatte Europa in eine tiefe Krise geführt. Während die ländliche Bevölkerung Sittlichkeit und Religion gefährdet sah (man hatte ja auch die oft überzogenen aufklärerischen Reformideen Josef II. abgelehnt), fürchtete die kaiserliche Regierung die Ausbreitung der Reformen auch in ihren Ländern, vor allem in den der Aufklärung durchaus offen gegenüberstehenden Städten. Ab 1793 bekam Tirol die Auswirkungen der Revolution zu spüren. Die französischen Revolutionäre erklärten dem Kaiser den Krieg. Wenn auch vorerst nur in den Niederlanden, in Oberitalien und am Rhein gekämpft wurde, so bedeuteten zusätzliche Kriegs-steuern, durchziehende Truppenverbände, verpflichtende Einquartierungen, Arbeitsdienste und Lebensmittelforderungen eine schwere Belastung der Bevölkerung. Ab 1796 war dann Tirol selbst von Süden her bedroht, nachdem der junge Napoleon die Österreicher zum Rückzug gezwungen hatte. Schon im Mai rückten die ersten Schützenkompanien an die Südgrenze aus. Am 1. Juni 1796 verlobten sich die Tiroler Landstände in Bozen dem Heiligsten Herz Jesu. Im September 1796 griff Napoleon Tirol direkt an und konnte erst bei Salurn aufgehalten werden. Die Berichte über die Gräueltaten der französischen Soldaten verängstigten auch die Bevölkerung des Inntales und führten zu einer besonderen Abwehrhaltung. Erst Ende November 1796 wurden die Franzosen vom Militär und von Schützenverbänden bis an die Landesgrenze nördlich von Verona zurückgeschlagen.
Wenige Wochen nach der Erscheinung in Absam griffen die Franzosen neuerlich an. Bereits am 24. März erreichte eine starke französische Einheit unter General Joubert Brixen, um den Vormarsch Napoleons über Friaul und Kärnten im Rücken abzusichern. Im Inntal wurde der allgemeine Landsturm ausgerufen. Die ausrückenden Schützen aus den Gemeinden des Gerichtes Thaur und Rettenberg besuchten zuerst das Absamer Gnadenbild, um den Schutz der Gottesmutter zu erbitten. Der, wenn auch mit vielen Opfern erkämpfte, Sieg der Tiroler bei Spinges, der Joubert zum Abzug zwang, wurde der Fürbitte Mariens zugeschrieben. Auch während der folgenden Kriege bis 1814 führten Bittgänge nach Absam.
Pfarrer Popp schreibt in seinen Aufzeichnungen, dass oft sogar Mils voller Wallfahrer auch aus entferntesten Orten war, die in Absam nicht untergebracht werden konnten.
Der Abschluss des Neubaus der Milser Pfarrkirche und die Wiederweihe am 3. November 1804 konnte den inzwischen erlittenen Bedeutungsverlust nicht mehr ausgleichen. Immer wieder besuchten zwar Wallfahrergruppen in den Folgejahren das Milser Gnadenbild und 1908 wurde ein großartiges 3‑tägiges Fest unter Beteiligung der Bevölkerung der ganzen Umgebung gefeiert. Die Blütezeit der Milser Wallfahrt war mit dem Kirchenbrand zu Ende gegangen, die Verehrung des Gnadenbildes vor allem durch die Dorfbevölkerung hat allerdings nie aufgehört.
Quelle: Milser Dorfblatt 12/2008, PDF-Download