DIE TRAGÖDIE AUF DER ACHILLE LAURO
von Wolfgang Reiter
Das Ehepaar Wolfgang und Eva ( Traudl ) Reiter, wohnhaft in Mils, Absamerweg Nr.1 hatten an einer Mittelmeerkreuzfahrt auf der MS ACHILLE LAURO teilgenommen. Das Schiff mit 196 m Länge, 25,7 m Breite und 24.000 BRT, ein Luxusschiff von internationalem Ansehen, kann bis zu 1000 Passagiere aufnehmen. An dieser Fahrt war die Tiroler Tageszeitung organisatorisch beteiligt. Unter den ca. 750 Passagieren befanden sich 199 Tiroler, die diese „Leserkreuzfahrt “ mitmachten. Durch die Gewalttaten der Terroristen kam das Geschehen auf der Achille Lauro in die Weltpresse.
Wolfgang Reiter berichtet:
Montag, den 7.10.1985
12.30 Uhr: Mittagessen im Restaurant. Die meisten Gäste sind in Alexandria von Bord gegangen. Nach einer ganztägigen Besichtigungsfahrt sollten sie abends um 22.00 Uhr in Port Said wieder an Bord kommen. Nur die rechte Restaurantseite ist gedeckt. Im restlichen Teil stehen die Stühle am Tisch, der Zugang ist mit einer Stuhlreihe abgesperrt. Ich nehme an einem Tisch Platz. Zwei Gäste aus Österreich sitzen bereits dort. Ich bin allein. Meine Frau konnte ich überreden am Ausflug teilzunehmen. Sie war noch nie in Ägypten. Risotto als Vorspeise und Kalbsbraten mit Gemüse als Hauptspeise werden serviert. Den Kellnern merkt man die lange Saison bereits an. Sie sind oft unwillig und zeigen eine versteckte Unfreundlichkeit. Bereits zum 18.Mal in dieser Saison fahren sie dieselbe Route. Kaum einen freien Tag, verständlich, dass sie müde sind.
13.00 Uhr: Plötzlich Schüsse, Schreie. Menschen laufen mit erhobenen Händen ins Restaurant. Die Kellner heben beschwichtigend die Hände. Dann wieder Schüsse. Ein Mann schreit auf und windet sich am Boden. Zwei junge Männer, dunkelhäutig, am Hals hängt eine MP, laufen ins Restaurant. Sie schießen in die Luft. Alle springen auf, laufen in Richtung Bug. Eine Frau stürzt zu Boden. Schützend wirft sich ihr Mann über sie. Zuerst gehe ich, dann laufe ich zum Küchenabgang. Zwei Rolltreppen, eine nach unten, die zweite nach oben führend, stellen die Verbindung zur tiefer liegenden Küche her. Die Menge staut sich, wird weiter geschoben. Ein Kellner schaltet die nach oben führende Treppe aus. Ich laufe hinunter. Immer wieder Schüsse. Das Küchenpersonal schaut erstaunt. Sie versuchen die Eisengitter zu schließen. Wohin nur. Ich drücke mich in eine Nische. Plötzlich steht ein Terrorist zwei Meter vor mir. Schwarze, gekrauste Haare, ein Schnurrbart, dunkelhäutig. Er schreit und zielt auf mich. Ein Schuss kracht in die Wand. Todesangst. Das Herz schlägt bis zum Hals. Ist das das Ende? Im Hosenbund baumeln Eierhandgranaten. Er stößt mir den Lauf in die Rippen, treibt mich zurück ins Restaurant. Dort sitzen die Leute am Boden, zwischen den Stühlen, unter den Tischen. Ich versuche ganz ins Eck zu kommen, zwänge mich dazwischen. Immer mehr Menschen kommen. Zwei Terroristen halten die Menge mit den Schnellfeuerwaffen in Schach. Wir dürfen nicht sprechen. Vom anderen Ende des Speisesaals dringen Schmerzensschreie und Stöhnen herüber. Immer wieder, ununterbrochen. Ein Arzt wird gesucht. Neben mir steht ein älterer Mann mit Brille auf. Er versucht hinauszukommen. Dann muss er wieder zurück, dann darf er wieder gehen. Das Schmerzgestöhne hält an. Was soll der Arzt auch machen ohne Medikamente, ohne Geräte. Der schnurrbärtige Terrorist spricht ohne Unterbrechung „Italien good“. Er zählt eine Reihe italienischer Städte auf. „Alle gut“. „Israeli und Amerikani bad“. Sie suchen nach Israeli. Die Schmerzensschreie sind verstummt. Das Ehepaar Candeloni aus Steinach sitzt vor mir. Rechts vor mir sitzt Frau Kliens. Sie ist Deutsche, wohnt aber in Trins im Gschnitztal. Der Rest sind Italiener aus der Besatzung. Ich schaue mich um. Überall bleiche angsterfüllte Gesichter.
14.00 Uhr: Eine Stunde ist vergangen. Die Terroristen sprechen arabisch miteinander. Einer hat ein Sprechfunkgerät, mit dem er mit anderen Terroristen in Verbindung steht. Er ist groß, glattrasiert, Blue Jeans, T‑Shirt mit weit ausgeschnittenen Ärmeln, hellblau. Plötzlich schreit er: „Du Israeli“. Er zeigt auf einen Mann. Winkt ihn heraus. „Come on, Israeli“. Ein vielleicht 75jähriger Mann steigt durch die Sitzenden. Seine Frau muss nachkommen. Er sieht wirklich wie ein Israeli aus. Er beteuert Österreicher zu sein. „Passa Porte“. Sie haben ihren Pass in der Kabine. Heute früh um 7.00 Uhr sollten die Pässe ausgegeben werden. Es war ein italienisches Fiasko. Hunderte Passagiere mussten eine Stunde warten, bis sie endlich ihre Pässe erhalten haben. Die Frau wird hinausgeführt. Nackte Angst begleitet sie. Der Mann bleibt zurück. 5 Minuten hat Frau Gratl Zeit, den Pass zu bringen. Man kann nicht helfen, nur warten. Der schnurrbärtige Palästinenser steigt durch die Menge und kommt zurück, ganz in die Ecke. Er steht knapp hinter mir. Der Lauf der MP baumelt hinter meinem Rücken. Er versucht die Nationalitäten festzustellen. Die meisten sind Italiener aus der Besatzung, einige Österreicher. Natürlich verwechseln die Terroristen Austria mit Australien. Woher sollen sie auch ihre Kenntnisse aus Geographie haben. Seit ihrer Kindheit sind sie auf der Flucht. Sie haben nur Töten gelernt und den Hass auf Israel.
15.00 Uhr: Die Beine werden steif, der Rücken schmerzt. Einige versuchen aufzustehen, müssen sich wieder niedersetzen. Wir versuchen unsere Stellung etwas zu verändern. Einige Stühle dürfen entfernt werden. Zwei Schüsseln mit Obst, Trauben, Äpfel, Birnen stehen auf einem Tisch. Der bärtige Terrorist lässt sich die Schüsseln geben und wirft das Obst zwischen die Sitzenden. Die Mannschaft hat noch nichts gegessen. Die vermeintliche Israeli aus Österreich kommt zurück, sie konnten sich mit den Pässen ausweisen. Der schnurrbärtige Terrorist redet immerzu. Er erzählt von seiner Familie. „Mama, Papa futsch, auch fünf Brüder und fünf Schwestern“. 50 Babies seien getötet worden. Wahrscheinlich meint er einen Angriff auf ein Palästinenserlager. Über Lautsprecher fordert der Kapitän alle auf, Ruhe zu bewahren und still sitzen zu bleiben. Ein Terrorist erklärt, dass wir nicht Port Said anlaufen werden. Das Schiff hat inzwischen die Fahrt gestoppt. Die Besatzung und die Terroristen rauchen ununterbrochen. Es ist heiß geworden, die Luft ist schlecht.
16.00 Uhr: Der Kapitän erscheint und gibt in italienischer und englischer Sprache bekannt, dass wir einzeln in die Arazzi Lounge übersiedeln dürfen. Diese liegt 4 Decks höher. Einzeln aufgefädelt gehen wir die Treppen zu dieser Tanzbar hinauf. Die Bewachung ist ungenügend. Niemand weiß, wie viele Terroristen an Bord sind. Es wäre ein Leichtes, jetzt abzuhauen. Wohin auch. Die Kabinen werden sicher kontrolliert. Mitten in der Arazzi Bar ist ein erhöhtes Podium für die Band. Vorne und hinten ist je eine Tanzfläche. Ringsherum Tische und Polsterstühle, blau und beige. Der Boden ist ein weinroter Samtteppich. Ca. 350 Mann Besatzung und der Rest von ca. 120 Passagieren werden auf engen Raum zusammen gepfercht. Wenigstens können wir nun in bequemen Polsterstühlen sitzen. Die Frauen dürfen einzeln auf die Toilette gehen. Die Männer müssen ihre Notdurft im Musikpavillon, der mit roten Samtvorhängen abgeteilt werden kann, verrichten. Zuerst in Sektkübel, dann auf Wolldecken. Später dürfen auch die Männer die Toilette aufsuchen.
18.00 Uhr: Es ist ruhig. Die Spannung hat sich gelöst. Die Leute unterhalten sich. Zwei Terroristen halten ca. 400 bis 45o Frauen und Männer in Schach. Es sind auch einige Kinder darunter. Eines zwei Jahre, die anderen sechs bis sieben Jahre.
20.00 Uhr: Zu dieser Zeit sollten wir in Port Said ankommen. Was ist mit den Ausflüglern? Wohin werden wir gebracht? Niemand weiß was. Keine Information. Zum Glück ist meine Frau außer Gefahr und der größte Teil der Passagiere. Panini und Obst werden gebracht. Die Besatzung stürzt sich wie wilde Hunde auf die Notverpflegung. Ich erkämpfe mir ein Brot. Mineralwasser wird verteilt. Stangen von Zigaretten werden gebracht. Ein Terrorist wirft die Pakete in die Menge. Es macht ihm Spaß zu sehen, wie sich die Meute darum rauft. Er lacht. Zielt in eine Richtung und wirft das Paket irgendwo anders hin. Die Terroristen sind sehr freundlich, dann drohen sie wieder, bringen die Menge zum Schweigen. Zeigen mit Gebärden, dass sie uns umbringen werden. Spielen mit den Handgranaten, ziehen ein imaginäres Messer über die Gurgel. Der Kapitän kommt und gibt bekannt, dass das Schiff Kurs nach Syrien aufnimmt. Am 8.1o.1985 gegen 11.00 oder 12.00 Uhr soll ein syrisches Boot die Terroristen aufnehmen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass da so einfach sein wird. Es ist von Flugzeugentführungen her bekannt, wie lange verhandelt wird, bis eine Besetzung aufgegeben wird. Niemand darf die Kabine aufsuchen. Wir versuchen uns für die Nacht einzurichten. Ich sitze neben der Reiseleiterin von Neckermann, die sich die ganze Zeit sehr um alle Passagiere rund um bemüht hat. Ich glaube gehört zu haben, dass sie einmal Maxi gerufen wurde. Links von mir sitzt ein Grieche, ein Manager der Chanderus Line.
20.30 Uhr: Alle Pässe werden von den Terroristen kontrolliert. Sie haben die Passagierlisten. Einzeln werden die Leute aufgerufen. Wer den Pass nicht bei sich hat, kann diesen einzeln von der Kabine holen. Alle Amerikaner und Engländer werden separiert. Mit Blickrichtung Bug müssen sie am Beginn der Arazzi Lounge rechts Platz nehmen. Die übrigen Passagiere werden nach links geschickt. Ich werde nicht aufgerufen. Jetzt wird die Besatzung kontrolliert. Ein amerikanisches Ehepaar spricht mit Maxi. Er ist Diplomat bei der UNIDO. Sie haben einen österreichischen roten Personalausweis, allerdings ist als Nationalität USA vermerkt. Die Frau zittert am ganzen Körper. Maxi gibt ihr den Rat, sich ganz ruhig zu verhalten. Der Palästinenser kontrolliert das Paar. Er gibt die Ausweise zurück, geht weiter. Glück gehabt. Die Frau ist fast am Zusammenbrechen.
21.00 Uhr: Alles wieder ruhig. Ich schleiche mich auf die Kabine am Lidodeck. Suche meinen Pass. Er ist nicht in der Schublade, wo ich ihn vermutete. Aufgeregt durchsuche ich alles. Dieses so wichtige Dokument, ich finde es nicht. Wieder zurück in die Arazzi Bar. Ich geselle mich zu den Italiener, Franzosen, Schweizern und Österreichern. Gegenüber sitzen die Amerikaner und Engländer. Sie dürfen nicht rauchen. Von Zeit zu Zeit brüllt der Bewacher sie an. Dann müssen sie wieder ein Stückchen von der Besatzung wegrücken. Ein Mann sitzt im Rollstuhl. Vielleicht 6o-65 Jahre alt.
22.00 Uhr: Es gibt wieder Verpflegung. Belegte Brote, Mineralwasser. Etwas später Kaffee.
Dienstag, den 8.1o.1985 4.00 Uhr: Ich habe im Stuhl geschlafen. Derzeit ist alles ruhig. Von den Terroristen ist nichts zu bemerken. Einer sitzt am Musikpavillon, einer beim Ausgang. Ich gehe zur Toilette. Es stinkt erbärmlich nach Urin.
5.00 Uhr: Es wird hell. Das Schiff fährt Richtung Norden. Nordsüdlich muss Syrien liegen.
7.00 Uhr: Es gibt Kaffee und Obst.
9.30 Uhr: Über Lautsprecher wird verlautbart, dass um 11.00 Uhr ein syrisches Schiff die Terroristen abholen wird.
10.00 Uhr: Plötzlich wieder Befehle der Terroristen. Die Amerikaner müssen sich in einer Reihe aufstellen. 11 Männer und Frauen werden nach oben geführt. Der Mann im Rollstuhl bleibt allein zurück. Dann sind einige Feuersalven zu hören. Wieder Stille. Maxi flüstert, „die haben nur in die Luft geschossen“. Hoffentlich hat sie recht.
1o.30 Uhr: Die englischen Mädchen aus dem Ballett müssen sich in Reihe aufstellen Sie verstehen nicht richtig. Ein Terrorist stellt sie unsanft auf. Dann gehen sie nach oben. Wie muss ihnen zumute sein. Dann wieder einige Schüsse. Die Ungewissheit nagt an den Nerven. Überall stehen Kanister mit Diesel herum. Wie lange noch wird dieser Terror, dieser Schrecken dauern?
11.00 Uhr: Wieder psychologische Kriegsführung. Zuerst Freundlichkeit, dann wieder Schreie, Drohungen. Die zwei Österreicher, die wie Israeli ausschauen, sitzen nicht weit vor dem Terroristen. Er hat eine entfernte Ähnlichkeit mit dem englischen Schauspieler Steward Granger. Plötzlich schreit er wieder: „Du Israeli, come“. Sie weisen die Pässe vor. Er erkennt diese nicht an und weist sie als falsche Pässe zurück. Er zieht seinen eigenen Pass als Beweis hervor. Ich habe später erfahren, dass die Terroristen als Passagiere in Neapel an Bord gekommen sind. Zwei sollen einen spanischen Pass und zwei einen argentinischen Pass vorgewiesen haben.
Die zwei Österreicher müssen ebenfalls nach oben gehen. Das Entsetzen steht ihnen im Gesicht. Dann wieder zwei Schüsse. Ich habe später mit den Österreicher gesprochen. Beide sind gebürtige Meraner. Seit Kriegsende leben sie in Innsbruck. Er ist 77, seine Frau 73 Jahre alt. Er sagte, dass er noch nie sich so geängstigt hatte, wie zu diesem Zeitpunkt. Die Ungewissheit bleibt.
12.00 Uhr: Verpflegung wird ausgegeben. Die Kellner geben nur mehr ein Brot pro Person aus. Der Kapitän erscheint wieder. Er verlautbart, dass in zwei Stunden alles vorüber sei. Ein Schiff soll die Terroristen abholen. Das Schiff steht.
14.00 Uhr: Vom Schiff ist nicht zu sehen. Drohung und Freundlichkeit wechseln ständig.
15.30 Uhr: Noch nichts vom Schiff zu sehen, das die Terroristen abholen soll. Etwas scheint schief gegangen zu sein. Die Terroristen werden unruhig. Seit 10.00 Uhr steht der alte Amerikaner im Rollstuhl allein. Sein Kopf ist nach vorne gesunken. Dann muss ein Matrose ihn aufs Promenadendeck schieben. Der Schnurrbärtige immer fröhliche Terrorist geht hinter her. Der Matrose kommt allein zurück. Von meinem Platz kann ich nur einen kleinen Teil des Promenadendecks sehen. Ich habe den alten Mann nicht mehr gesehen. Am nächsten Tag erzählt mir ein Schiffsoffizier in englischer Sprache vom Tode des Amerikaners. Er flüsterte nur als hätte er Angst, ein Terrorist könnte ihn hören. Stockend erzählte er, dass der schnurrbärtige Palästinenser den alten Mann eine Garbe in die Brust geschossen habe. Danach sei er samt dem Rollstuhl ins Meer geworfen worden.
16.10 Uhr: Die Amerikaner kommen wieder in die Arazzi Bar. Ich zähle. Alle 11 sind da. Danach kommen die blutjungen englischen Tänzerinnen. Nur fünf zuerst. Dann Gott sei Dank auch das letzte Mädchen, zusammen mit den zwei Österreichern. 5 Stunden mussten sie in der prallen Sonne auf einem ungeschützten, grün gestrichenen Stahldach sitzen. Dieser Platz war von der Brücke aus einsehbar. Später erfuhr ich von dem griechischen Manager der Chaudris Line, dass jede halbe Stunde eine Geißel erschossen werden sollte. Der alte Mann war der Erste. Nach seinem Tode sollen 50 Gefangene durch diese Drohung freigepresst worden sein. Ich weiß nicht, was an diesen Informationen wahr ist. Ich werde nur versuchen, weiterhin die Ereignisse an Bord so sachlich als es mir möglich ist, zu schildern.
16.30 Uhr: Das Schiff nimmt wieder Fahrt auf. Niemand weiß wohin. Zum X‑ten Mal richtet der Kapitän die Bitte an alle, sich ruhig zu verhalten und nicht zu bewegen. Die Palästinenser sind sehr nervös. Es scheint, als hätten die Syrer ihnen kein Asyl gegeben. Dann beruhigt sich die Situation wieder. Ich unterhalte mich mit der Familie Candolini aus Steinach darüber, dass nur einige beherzte Männer doch die Terroristen entwaffnen müssten können.
Diese sind übermüdet und oft passen sie gar nicht mehr richtig auf. Bisher habe ich nur vier Palästinenser gesehen. Über 300 Mann Besatzung und mehr als loo Passagiere sind in der Arazzi Bar und werden meist von nur zwei Terroristen in Schach gehalten. Der größte Teil der Mannschaft besteht aus jungen kräftigen Matrosen, Kellner, Maschinisten usw. Alle haben Angst etwas zu unternehmen. Ich verstehe das, denn ich habe auch Angst. Trotzdem glaube ich, dass eine Entwaffnung wohl gefährlich aber möglich wäre.
17.00 Uhr: Die Frauen und Kinder dürfen in die Kabine gehen, um sich zu waschen und umzukleiden. Seit Montag, 6.00 Uhr früh, stehen wir in denselben Kleidern. 23 Stunden. Plötzlich ein Tumult. Drei Maschinisten mit Sprechfunk werden in den Saal getrieben. Sie sind mit olivgrünen Overalls bekleidet. Ein Terrorist schreit: „Du Israeli“. Offiziere versuchen den offensichtlichen Irrtum aufzuklären. Eine Zeit lang werden die Maschinisten mit der MP bedroht, müssen auf der Tanzfläche in der Mitte sitzen. Eine gefährliche Situation. Alle Frauen müssen aus den Kabinen wieder schnellstens zurückkommen. Dann dürfen die Maschinisten wieder an ihre Arbeit zurückkehren.
17.30 Uhr: Erneut Passkontrolle. Der grimmige Terrorist, er hat noch nie gelacht, geht von Passagier zu Passagier. Der Kapitän geht mit und kontrolliert auch die Pässe. Ich sitze mit dem Gesicht zu einer Säule und versuche nicht aufzufallen. In meiner Verzweiflung fällt mir ein, dass der Pass in der blauen Mappe mit den Ausflugstickets der Schifffahrtsgesellschaft stecken könnte. Wieder werde ich übersehen. Dieser verflixte Pass, er muss einfach her.
18.30 Uhr: Der Kapitän sagt, er hätte eine gute Nachricht. Das Schiff fährt nach Port Said. Dort gehen die Terroristen von Bord und die Ausflügler werden wieder auf das Schiff kommen, dann wird direkt Kurs auf Neapel genommen. Die Mannschaft bricht in Jubel aus, klatscht, schüttelt den Terroristen die Hand, umarmt sie. Bruderküsse werden ausgetauscht. Nur ganz wenige der Passagiere nehmen an dieser Verbrüderung teil. Sie verhalten sich reserviert, bewahren Distanz. Ekelhaft diese Anbiederung.
20.00 Uhr: Die Verbrüderung ist vorbei. Wir werden wieder auf engstem Raum zusammengetrieben. Die Dieselkanister werden geöffnet. Es stinkt erbärmlich. 7 Amerikaner müssen sich neben den Terroristen auf den Boden des Musikpavillons setzen. Zwei englische Mädchen müssen ebenfalls hin. Einer entschärft eine Handgranate. Der Abzugshebel hängt nur mehr an einem Faden. Die MP-Magazine liegen links und rechts auf den Schenkeln. Die Laufmündung ist auf die Menge gerichtet. Ein Terrorist grinst, fragt uns, ob uns das gefällt. Diesmal klatscht niemand aus der Besatzung. Alles schaut gespannt. Die Angst liegt fühlbar über der Arazzi Bar. Die Amerikaner und Engländer müssen aufrecht sitzen. Sie haben sich Deckung suchend zusammengekauert. Anscheinend hat ein sich näherndes Schiff diese Aktion ausgelöst. Dann wieder langsam Entspannung. Ich sitze am Boden. In den Polsterstühlen sitzen die Besatzungsmitglieder. Die Kanister werden wieder verschraubt.
21.00 Uhr: Ich bin todmüde. Ich suche das WC auf. Es ist kaum mehr benutzbar. Kot liegt hinter der Muschel, in einer Ecke ein Haufen Klopapier. Das Handtuch liegt verdreckt am Boden. Langsam gehe ich zurück, schaue mir die Situation an, schaue wo die Terroristen stehen. Mir ist momentan alles wurscht. Ich nehme meine Decke und marschiere einfach auf meinen früheren Platz linksseitig der Bar. Ich setz mich auf den Polsterstuhl, lege die Füße auf den Tisch und muss sofort eingeschlafen sein.
Mittwoch, den 9.10.1985, 5.00 Uhr: Ich schrecke aus dem Schlaf. Der grimmige Terrorist schreit herum. Ich habe den Kerl noch nie lachen gesehen, nicht einmal auch nur den Anflug eines Lächelns ist je über sein Gesicht gehuscht. Wir müssen aufstehen, dann wieder niedersetzen. Wir kennen diese Situation schon von früher her. Irgendwas ist wieder los. Er geht durch die Arazzi Bar, die MP im Anschlag. Dann wieder Entwarnung.
7.00 Uhr: Von Port Said ist weit und breit nichts zu sehen. Das Schiff steht wieder. Es gibt Kaffee und Kekse.
10.00 Uhr: Alles ist ruhig. Die Terroristen sind übermüdet, können sich kaum mehr wach halten. Später erfuhr ich, dass sie angeblich Kokain geschnupft haben und sich Spritzen gaben. Einer sitzt am Tisch. Die MP lehnt an der Wand. Er fällt mit dem Tisch um, steht wieder auf. Der schnurrbärtige Palästinenser lässt den Abfall beseitigen. Er schüttelt den Kopf, räumt selbst Schmutz beiseite. Die kann man fast umblasen, so müde sind sie. Nur einige entschlossene Burschen und der Fall ist gelöst?
10.30 Uhr: Wieder werden wir auf einen Haufen zusammen getrieben. Ich sitze inmitten der Besatzung. Alle rauchen, trinken Kaffee, warten.
11.30 Uhr: Ein Offizier gibt bekannt, dass wir nach Port Said gebracht werden. Das haben wir doch schon oft gehört. Bisher ist noch nichts eingetroffen. Niemand schenkt diesen Aussagen mehr Glauben. Und trotzdem – jeder klammert sich daran, ist erleichtert. Die Luft ist schlecht. Trotz Klimaanlage ist es heiß.
12.00 Uhr: Die Terroristen erscheinen mit dem Kapitän. Er muss eine geschriebene Mitteilung in italiensicher Sprache verlesen. Dann übersetzt er in Englisch. Wie gibt es das nur, dass ein Kapitän ein so mangelhaftes Englisch spricht: Ich entnehme, dass auf dem Schiff gestohlen wurde. Polizei soll an Bord kommen und alle Passagiere, die Besatzung, aber auch die Terroristen auf gestohlene Gegenstände untersuchen. Die Palästinenser erklären immer wieder, dass sie nichts genommen haben. Sie seien nur an Bord gekommen, um Freunde aus dem Gefängnis frei zu bekommen. Mein ganzes Geld ist im Bordsafe. Wahrscheinlich kann ich es abschreiben.
13.00 Uhr: Die Achille Lauro steht noch immer. Die Decken werden eingesammelt. Einer der Besatzung beginnt den Boden aufzusaugen. Das Küchenpersonal soll heute etwas Warmes kochen dürfen. Das ist das geringste Problem. Gerüchte schwirren umher. Unterseeboote sollen ringsherum unter Wasser uns begleitet haben. Italienische und amerikanische Kriegsschiffe sollen knapp außerhalb der Sichtweite liegen.
13.5o Uhr: Der Kapitän kommt. Er ist übermüdet, er zittert, spricht nur stockend, ist unglaublich nervös. Man kann seine Anspannung fast greifen. Er muss erklären, dass die Terroristen das Schiff nur zur Überfahrt. benutzt haben. Sie werden jetzt von Bord gehen. Es tut ihnen sehr leid, aber sie kämpfen für die Freiheit aller Länder. Der Kapitän will das nicht sagen, er widerspricht. Er sagt nur, sie kämpfen für die Freiheit der Palästinenser, für ihre Familien, Brüder, Landsleute. Die italienische Besatzung bricht wieder in Beifall aus. Wieder das beschämende Schauspiel von gestern. Hände schütteln, Umarmungen.
14.00 Uhr: Wir horchen einfach zu, glauben nichts mehr. Wir lassen einfach alles über uns ergehen. Schauen verständnislos der erneuten Verbrüderung einfach zu. Noch sind die Terroristen da, tragen Waffen. Sie reden von Freiheit und haben uns unsere Freiheit genommen. Sie haben unser Leben bedroht, uns genötigt, gedemütigt. Mir fällt ein, dass ich mich auf der Silbernen Hochzeitsreise befinde. Meine Frau habe ich seit Montag früh nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich hoffe in Sicherheit.
14.10 Uhr: Die Flugkoffer und Taschen der Terroristen werden gebracht. Sie leeren sie auf der Tanzfläche aus, wollen uns zeigen, dass sie nichts gestohlen haben. Der Steward Granger Typ grinst. Er zeigt auf die Waffen, auf die Schlafsäcke und macht eine Gebärde des Einwickelns. In den Koffern haben sie einfach die Waffen an Bord gebracht. So einfach ist das. Die blauen Tragtaschen mit der Aufschrift „Archille Lauro“ leeren sie nicht aus.
14.15 Uhr: Ein älterer Offizier sitzt neben mir. Er raucht ununterbrochen. Er ist wahnsinnig aufgeregt. Er flüstert nur und erzählt von den falschen Pässen der Terroristen, von großer Gefahr in der letzten Nacht. Auf der Brücke sei geschossen worden, da die Terroristen immer gefürchtet haben, dass das Schiff gestürmt werde. Die Schiffsleitung befürchtet, dass Sprengladungen angebracht wurden.
15.00 Uhr: Wir warten. Nichts hat sich geändert. Kein Palästinenser ist zu sehen. Spannung liegt über der Arazzi Bar. Keiner bewegt sich. Kaum jemand spricht. Die Koffer und Tragtaschen stehen verlassen auf der Tanzfläche. Der Offizier erzählt mir vom alten Mann im Rollstuhl. „He was killed yesterday“. Später habe ich das Blut am heckseitigen Promenadendeck gesehen.
15.15 Uhr: Ein Terrorist kommt herein ohne Waffe, ohne Handgranate. Er hat sich umgezogen, trägt einen eleganten blaugrauen Anzug. Er stopft etwas in die Tragtasche. Der Schnurrbärtige hat die Waffe noch in der Hand. Er scherzt mit der Besatzung.
15.32 Uhr: Aufgeregte Laute in arabischer Sprache kommen durch den Lautsprecher. Der Spaßmacher aus Palästina läuft zum Fenster, öffnet die Vorhänge. Ein kleines Boot nähert sich der Achille Lauro. Es ist noch ca. 1000 Meter entfernt, kommt langsam näher. Vom Promenadendeck zielt der Granger Typ mit der MP auf das Schiff. Es kommt längsseits. Ein Terrorist entert hinüber. Am dunkelblauen Aufbau ist ein weißer Kreis mit einem verschlungenen Zeichen darin. Am Heck flattert eine Fahne rot, weiß, schwarz mit einem viereckigen gelben Zeichen. An der Bordwand die Aufschrift „Basel 2“, davor arabische Schrift.
16.05 Uhr: Die Terroristen rufen hin und her. Die restlichen drei kommen in die Bar, drehen eine Abschiedsrunde. Applaus brandet auf. Es ist zum Kotzen. Ein Terrorist leert einen Koffer aus. Er packt die Läufe der Schrotflinten ein, die seit Beginn dort lagen. Vor Tagen haben die Passagiere damit auf Tontauben geschossen. Das waren anscheinend die einzigen Waffen an Bord. Dann verlassen die Terroristen die Arazzi Bar, winken zurück. Die Koffer werden nachgetragen. Zwei Schweizer stehen vom Boden auf. Ein Italiener fordert sie zum Niedersitzen auf. Sie gehen auf ihn los. „Hau ab, du Schießkerl, ihr beschissenen Hunde“. Er weicht zurück. Bei denen braucht man keine Waffen.
16.12 Uhr: Das Boot legt ab und fährt in Richtung Süden. Am Horizont sieht man Aufbauten von großen Schiffen. Es ist vorbei. Wir leben noch.
Epilog
27 Tiroler haben diese schrecklichen 50 Stunden durchmachen müssen. Trotz größter Nervenanspannung, Furcht und Schrecken haben sich ausnahmslos alle hervorragend verhalten. Alle haben sich makellos verhalten, jeder auf seine Art hat so weit als nur möglich war seinen Nachbarn, seinen Landsleuten geholfen.
Außer einigen italienischen Touristen, die bei jeder Verpflegungsausgabe versuchten, sich Vorräte anzulegen, die ganze Taschen von Zigaretten hamsterten, haben sich auch alle Passagiere anderer Nationalität zueinander hilfsbereit und diszipliniert gezeigt.
Für viele von den Geißeln war das Verhalten der Mannschaft einfach unverständlich. Auch wenn man das südländische Temperament in Betracht zieht, muss man nicht den Terroristen applaudieren, deren Hände schütteln, sie umarmen und küssen und das Victory-Zeichen zeigen.
Die Offiziere und der Kapitän der Achille Lauro haben unmenschliches geleistet. Sie konnten nicht schlafen, sie haben unter ständiger Lebensbedrohung versucht, die Disziplin aufrecht zu erhalten und eine Katastrophe zu verhindern. Obwohl ich inzwischen einen Abstand von den Ereignissen gewonnen habe, glaube ich, dass eine unbedachte Handlung das Pulverfass zur Explosion bringen hätte können.
Mein Respekt gilt der Schiffsleitung.