Quelle: Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck
NS-Euthanasie in Tirol
Veronika Pöll
Die Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik in Innsbruck zählte in der Zeit des Nationalsozialismus 138 stationäre Behandlungsplätze. Vom 1. Jänner 1939 bis Kriegsende 1945 wurden insgesamt 232 PatientInnen von der Klinik Innsbruck an die Heil und Pflegeanstalt Hall übergeben.
1939 trafen in Hall Meldebögen der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalt“ ein, um die dort stationierten PatientInnen zu erfassen. 1940 sichtete Euthanasiearzt Dr. Fritz Mennecke persönlich die Krankengeschichten, woraufhin ein Beauftragter der „Reichsarbeitsgemeinschaft“ in SS Uniform erschien, um all jene PatientInnen zu deportieren, die nach Menneckes Zusammenstellung auf einer Liste zusammengefasst waren. Klebelsberg, Primarius der Heil- und Pflegeanstalt Hall, war erschüttert, da auch leicht erkrankte PatientInnen abgeholt werden sollten. Er begab sich sofort zu Univ.-Prof. Dr. Scharfetter, dem Vorstand der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Innsbruck. Beide protestierten bei Dr. Hans Czermak, dem Leiter der Abteilung III (Volkspflege) der Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg, gegen den Abtransport von mehr als 300 PatientInnen. Dieser verwies sie an Gauleiter und Reichsstatthalter Franz Hofer, dem Führer der NSDAP und Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg. Infolge des Widerstandes der beiden Psychiater bewilligte Hofer, jene Personen, die Klebelsberg und Scharfetter für heilbar und arbeitsfähig hielten, von der Liste zu streichen. Dadurch konnte knapp die Hälfte der todgeweihten PatientInnen gerettet werden.
Im Dezember 1940 fuhren im Schutz der Dunkelheit Omnibusse in der Pflege- und Heilanstalt Hall vor um 179 PatientInnen abzuholen. Dasselbe wiederholte sich im März 1941, als weitere 49 Personen aus der Pflege- und Heilanstalt Hall abtransportiert wurden. Zwei Monate später wurden erneut 28 PatientInnen verschleppt. Ziel war die Heilanstalt Niederhart in Oberdonau, der Durchgangsstation nach Schloss Hartheim bei Linz, wo sie innerhalb von wenigen Wochen ermordet wurden.
Die „Menschentransporte“ nahmen kein Ende. Auch das St. Josef Institut in Mils, das heute schwerbehinderte PatientInnen betreut, wurde in der NS-Zeit für die Tarnung vieler „Sonderbehandlungen“ missbraucht. 67 HeiminsassInnen kamen ums Leben. Unüberschaubare PatientInnenenbewegungen dienten zur Vertuschung der Tötungsvorhaben. Bei vielen PatientInnen wurden einfach „andere Heime“ als Zielort des Transportes angegeben. Von den Barmherzigen Schwestern wurden in Ried im Oberinntal, in Nassereith und in Imst sogenannte Versorgungshäuser geführt, in dem man sich um alte, schwache Menschen kümmerte. 1941 erschien Dr. Czermak auch in diesen Anstalten um die zu tötenden HeiminsassInnen zu bestimmen. 20 Pfleglinge aus Nassereith und 25 aus Imst wurden vorerst nach Hall deportiert. Die meisten dieser PatientInnen wurden auch nach Hartheim verfrachtet und dort ermordet. Ebenso fanden die 23 PatientInnen des Versorgungsheimes Ried in Hartheim den Tod.
Die Salzburger Barmherzigen Schwestern betreuten lange in Mariatal bei Kramsach eine Schule mit angeschlossenem Heim für behinderte Mädchen. 1938 wurde diese Einrichtung geschlossen und 1939 Kinder mit „intellektuellen Defiziten“ aufgenommen. Hinzu kamen noch Kinder aus St. Anton bei Bruck, Fügen und Mils. Dr. Czermak sorgte auch in dieser Anstalt für die Verlegung vieler PatientInnen. Am 23. Mai 1941 wurden 61 Kinder und Jugendliche, von denen nur 11 älter als 20 Jahre alt waren, trotz heftigster Gegenwehr der geistlichen Schwestern in zwei Omnibusse verfrachtet, nach Hartheim abtransportiert und dort ermordet.
Mindestens 502 PatientInnen wurden in bzw. von Tirol aus als „unwertes Leben“ getötet. Von den Ermordeten kamen 343 PatientInnen aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall, 128 psychisch Kranke und geistig Behinderte aus dem St.-Josefs-Institut in Mils und dem Institut Mariatal in Kramsach sowie 30 aus der Heil- und Pflegeanstalt Valduna in Rankweil/Vorarlberg. Ein Patient wurde in einem Krankenhaus bei München „zur Euthanasie freigegeben“. Weitere 300 bis 400 Kranke verstarben in Hall an Hunger. Hauptverantwortliche der Mordaktionen in Tirol waren Dr. Hans Czermak und Gauleiter Franz Hofer.