Als das neue Dorfzentrum wuchs und Gestalt annahm, wurde ein altes Relikt dem Erdboden gleich gemacht: Das Mesnerhaus wurde abgerissen – unbestreitbar ein Akt der Vernunft, war es doch alt, baufällig und kaum noch renovierbar. Modernere Alternativen (Pfarrsaal) und Platz (für was auch immer) waren das Gebot der Stunde.
Aber die entstandene leere Stelle verursachte keine Leere in meinem Kopf – im Gegenteil, sie war Antrieb genug, in Erinnerungen in die Vergangenheit, in das Leben rund um das damalige Dorfzentrum einzutauchen, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte.
Von der Stimmungslage nach dem Krieg bekam man als Kleinkind natürlich nichts mit. Ich weiß noch, wie ich mit meinen zwei Brüdern spielte – im Haus meist unter dem Tisch, weil der Raum dermaßen schmal war, hatte man doch den Gang zur Küche umfunktioniert. Kein Wunder, dass wir uns, wenn irgendwie möglich, im Freien aufhielten (in den Monaten ohne „r“ barfuß) und so das Leben im Dorf beobachten konnten.Und da gab es einiges zu bestaunen: Wenn die Bauern mit Einspännern ausfuhren; der im Peerhaus nebenan arbeitende Schuster uns bei seiner Arbeit zusehen ließ; die Männer in schwarzen Hüten vor der Kirche so lange palaverten, bis die Glocke zur Wandlung ertönte und nach vollbrachtem Kirchgang meist beim Tiefenthaler einkehrten, auf einen „Ratscher“, einen Watter, Bieter oder Stecher. Auch von derben Scherzen war immer wieder die Rede, wie das Anzünden eines „Ratzens“, Anstachelungen zu Raufhandel und Wutausbrüchen etc. Schiefertafeln hielten Punktestände der Kartenspiele fest oder dienten zur Aufzeichnung von Schulden.
Ja, und natürlich die Tätigkeiten rund um den Beruf meines Großvaters, der Mesner war. Besonders das Läuten der Kirchenglocken faszinierte jeden männlichen Dorfbewohner. Uns Kleinen galten die „Großen“ mit ihren wagemutigen Manövern an den Seilen oder gar im Glockenturm als wahre Helden und Vorbilder.
Auch die Ministrantenlaufbahn war irgendwie vorgegeben- noch war die Kirche das Zentrum des Dorfes und Messbesuche auch unter der Woche wurden von Lehrern und Pfarrer gefördert bzw. gefordert.Ein weiteres soziales Zentrum war der Dorfladen im Peer-Haus, dessen Funktion über den bloßen Einkauf hinausging – auch hier wurde viel „geratscht“, die Verkäuferinnen (Luise und Anna Peer, später Anna Freudenschuß) waren wahre Kenner der Dorfszene. Für uns Kinder boten die Stufen zum Eingang einen idealen Platz um zu sehen oder gesehen werden – wie etwa von französischen Besatzungssoldaten, die uns immer wieder mit Süßigkeiten beschenkten und uns oftmals zum Truppenübungsplatz auf der Milser Heide mitnahmen (glücklich der, wer gar an einer Panzerfahrt teilnehmen durfte).
Klar, dass sich der Einkauf selbst anders darstellte, waren die Dorfläden ja noch keine Selbstbedienungsläden – man wurde mehr oder weniger höflich bedient. Waren in Plastiksackerln gab es kaum, es wurde gewogen, mit einem Bleistift gerechnet, kassiert und meist in Papier verpackt (dies galt auch für die begehrten „Zuckerlen“, die abgezählt aus einer Glaskaraffe im Papiersackerl verkauft wurden), sogar ein „Stollwerk“ wurde entzwei geschnitten, hatte man nicht genug Groschen zur Hand. Auch der gewaltige Hunger der pubertären Lehrlinge auf üppig belegte Wurstsemmeln bleibt in Erinnerung.
Im Mesnerhaus war auch eine Klasse der Volksschule untergebracht, der Großvater war auch für die Beheizung des Raumes mittels eines rußigen Ofens verantwortlich. 1953 wurde die neue Volksschule eröffnet, meine Familie zog ins Vereinshaus um, wo mein Vater Hausmeister wurde. Die Stufen vor dem Geschäft wurden von einer neuen Generation bevölkert, wie etwa von den Kindern der Familie Klingler, die durch den Ausbau des Feuerwehrhauses eine Wohnung im Dorfzentrum erhielten. So blieb die Gegend um die Kirche noch einige Zeit das Zentrum des Dorfes, bis allgemeine gesellschaftliche Veränderungen und der enorme Zuzug in neu erschlossene Gebiete der Gemeinde die Bedeutung des Dorfzentrums schwinden ließen. Als die Fam. Stock als letzte Dorfladenpächter in ein modernes Geschäft an der Dorfstraße zog, der Tiefenthaler dicht machte und die beherrschende Rolle der Kirche abzunehmen begann, verwaiste das Dorfzentrum zusehends. Hoffen wir, dass sich mit der Neugestaltung des Dorfplatzes wieder ein Platz der Begegnung für Milser ergeben wird.
Josef Waldner, 3.12.2017