
Innsbruck, 19.12. 1943: Der elfjährige Bub, gerade dem Luftschutzkeller entstiegen, steht vor den zerbombten Resten jenes Hauses, in dem er bis vor kurzem noch wohnte. Die Trümmer brennen, es raucht. Nicht daran zu denken, etwas von seinen Habseligkeiten zu retten. Er hat nur mehr das, was er am Leib trägt. Er ist ganz allein, er hat Angst. Wohin nur? Er beginnt zu laufen. Nur weg von hier. Das Bild einer entfernten Verwandten entsteht in seinem Kopf – Vogelsberger Pepi heißt sie. Sie wohnt in Mils. Ist das weit? Egal. Da muss er hin. Sein eiserner Wille und der Schrecken im Nacken lassen ihn laufen, bis er vor dem Haus der Vogelsberger steht und anklopft. „Was machen wir mit dir?“ sagt die Pepi. „Schlaf einmal da, dann werden wir weitersehen“. Herberge und Zuflucht. Kurz vor Weihnachten, mitten im Krieg.
Mils, 19.12.2013. Im Vereinshaus findet die jährliche Weihnachtsfeier für Senioren statt. Besinnlich-zufriedene Stimmung bei adventlichem Programm und guter Bewirtung. Die Gedanken von Helmut Kurz schweifen in die Vergangenheit, alte Erinnerungen an die Ereignisse vor genau 70 Jahren tauchen in ihm auf. In einer Pause spreche ich ihn an, er weist mich auf die Besonderheit dieses Tages für sein Leben hin und zwei Tage später erzählt er mir seine bewegte Geschichte.
Damals, als er am 6.11.1932 in Hall zur Welt kam, war es noch ein gesellschaftliches Problem, wenn die Mutter ledig und noch dazu arbeitslos war. So wurde er bei Bekannten und Verwandten untergebracht – als Kind, das halt irgendwie mitlief in einer mehrköpfigen Familie in einer von Armut geprägten Zeit, mit dem Gefühl des Dabeiseins aber nicht des Dazugehörens, aufgenommen und wieder abgeschoben, mehr geduldet als geliebt und umsorgt. Nach mehreren Stationen (u.a. Imst, Ötztal und wieder Hall) wurde er von seinem Vater aufgenommen, der inzwischen geheiratet hatte und in Innsbruck wohnte, auch dort den Wohnsitz mehrmals wechselte. Aber schon bei Kriegsausbruch 1939 wurde der Vater zur Wehrmacht eingezogen und auch seine Stiefmutter, eine Sängerin, betreute im Dienst des KdF Soldaten an der Front. So war er auf sich allein gestellt und wurde in die Schule für alleinstehende Kinder in der Gilmstraße eingewiesen – wenig verwunderlich, dass er seine „Freiheit“ auch zum Herumstreunen und Schulschwänzen benützte.
Das Leben in Mils veränderte sein Leben grundlegend und damit auch ihn. Die Pepi brachte ihn zum Bauern Rudl Vogelsberger („Beim Beinstingl“, Oberdorf 25, heute Held), der gleichzeitig auch Gemeindesekretär war und beim Bürgermeister Franz Tiefenthaler vorsprach (Gemeindeamt Manghaus). „Den Buam werden wir wohl behalten“, stellte dieser nach Recherchen über dessen Herkunft fest. Und so nahm der Helmut ein Vollbad im dörflichen Mils der Kriegs – und Nachkriegszeit: Bauernarbeit, Hilfsdienste für die Gemeinde, Verteilen der Lebensmittel- und Kleidermarken sowie von Brennholz; Besuch der Schule (in der heutigen Pfarrstube und mit großem Staunen, denn dort gab es auch Mädchen!); Nachhilfe von Lehrer Glatzl in der Veranda im Manghaus; strafweises Orgeltreten in der Kirche; Aufnahme als Ministrant durch Pfarrer Hellrigl; täglich um 18 Uhr Läuten der Kirchenglocken mit Erlaubnis des Mesners Rudl Rastbichler. Und nach Kriegsende bot sich die Milser Heide mit den hinterlassenen Kriegsgeräten (Kriegsfahrzeuge, Feldtelefone, Munition etc.) den Milser Jugendlichen als willkommener Freizeitpark an. Staunend beobachtete die Dorfjugend, wie die fremden Soldaten, unter denen sie auch erstmals einen Schwarzen erblickten, versteckte Waffen beschlagnahmten, u.a. auch 30 Stück beim Pfarrer Fink.
Jedenfalls fand er in Mils genau das, was er vorher entbehren musste: Die Einbettung in ein soziales Gefüge, das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, Nähe und Verbundenheit. Noch heute glänzen seine Augen, wenn er etwa von den Schitouren jener Zeit erzählt, als man mit einer Gruppe Jugendlicher von der Kirche bis zur Volderer Brücke fuhr, die Schier hinauf bis zur „Langen Stang“ trug und nach der Abfahrt über „große und kleine Angst“ wieder nach Mils zurückkehrte, oder von den Fußballspielen am Dreschtennenplatz, u.a. mit Spielen gegen eine „Auswahl“ des Taubstummeninstitutes.
Als er nach Beendigung der Schulzeit (Hauptschule in Hall) keine Arbeit fand, vermittelte ihm die Jugendhilfe eine Stelle in der Schweiz, wo er als Hilfsarbeiter in einer Metzgerei arbeitete. Nach seiner Rückkehr 1954 wurde er für die „B‑Gendarmerie“ rekrutiert – eine geheim aufgestellte Organisation, die im aufkommenden „Kalten Krieg“ die Interessen der Westmächte vertreten sollte (sogar als Kerntruppe für ein Exilheer im Falle einer sowjetischen Machtübernahme, so die Planspiele). Nach Abschluss des Staatsvertrages 1955 war es daher relativ rasch möglich, mit der B‑Gendarmerie als Basis das neue österreichische Bundesheer aufzubauen. Auch Helmut Kurz wurde übernommen, sein in der Schweiz erworbener Führerschein ermöglichte ihm einen Einsatz als KFZ-Fahrer und er blieb dort bis zu seiner Pensionierung 1990.
Inzwischen hatte auch er eine Familie gegründet (1959 Hochzeit mit Marianne, gest. 1986, Sohn Stefan) und in Mils ein Haus erbaut, das die Familie 1969 bezog. Zur Aufbesserung der finanziellen Mittel verdingte er sich zusätzlich jahrelang als Busfahrer bei der Firma Heiss.
Das für ihn so wichtige dörfliche Miteinander versuchte er mit dem Beitritt zu Vereinen (Oswald Milser Chor-Gründungsmitglied, Schützen, Kirchenchor) nicht verkommen zu lassen; eine Periode lang saß er auch im Gemeinderat. Für sein soziale Engagement wurde er mehrfach geehrt (Georgs-Orden aus der Hand von Bischof Stecher, Goldene Verdienstmedaille der Republik, Amtsehrennadel des Landes) und die soziale Ader pocht nach wie vor im rüstigen Pensionisten, der – noch immer charmant im Auftreten und stets auf Höflichkeit bedacht – einer der dienstältesten Fahrer für „Essen auf Rädern“ in Mils ist.
Dies alles tat und tut er aber sicherlich nicht der Auszeichnungen wegen. Wenn man seine Kindheit kennt, kann man erahnen, wie wichtig ihm die Gemeinschaft, das Aufeinander-Zugehen ist. Und seine Kernaussage „Mils hat mein Leben gerettet“ deutet wohl darauf hin, dass er der Gemeinschaft auch etwas zurückgeben will, denn es scheint ihm klar bewusst zu sein, dass sein Leben auch anders hätte verlaufen können.
J. Waldner, Mils 01 2014
Josef Waldner 15.1.2014