Jeden Tag in aller Frühe, wenn das Dorf noch schläft, streift der Ferdl durch den Wald (wenn er nicht gerade in den Bergen ist). Da ist er eins mit der Natur, dort kennt er sich aus, vermag schärfer zu sehen als andere und nimmt Dinge wahr, die den meisten entgehen. Was er aber am 10. Juni bemerkt, lässt ihn stutzen: auf einem steilen Abhang im Gebiet des Baumkirchner Tales liegt etwas. Es ist ein Mensch. Eine Frau. In Sonntagskleidung, mit Handtasche und Schuhen mit rosa Mascherln. Vollkommen leblos, offenbar den steilen Abhang heruntergestürzt und an einem Baum hängen geblieben. Sie scheint tot zu sein, kein Puls spürbar. Erst im Nackenbereich vermeint der Ferdl eine Spur von Wärme wahrzunehmen. Er schüttelt und rüttelt die Frau – und tatsächlich schlägt sie die Augen auf, antwortet auf seine Fragen, weiß, wer sie ist, aber nicht, wie sie hierhergekommen ist. In einem Notruf sieht er wenig Sinn, weil niemand diese abgelegene Stelle schnell finden könnte, eine Handyortung würde zu lange dauern. So verständigt er per Handy seine ehemaligen Arbeitskollegen, die Gemeindearbeiter von Mils, die seinen Hilferuf weiterleiten und Rettung, Polizei und Bergrettung zum Unfallort lotsen. Erst mit Hilfe der Bergrettung wird die Frau aus dem unwegsamen Gelände geborgen und in das Krankenhaus Hall eingeliefert, wo eine Unterkühlung und Abschürfungen festgestellt werden.
Wie sich anschließend herausstellen sollte, handelt es sich bei der geretteten Frau um jene Person, die zwei Tage zuvor als abgängig gemeldet war und zuletzt gesehen wurde, als sie einen Bus von Innsbruck nach Igls bestieg. Die offenbar zeitweise verwirrte Frau selbst konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie nach Mils gekommen und in dem unwegsamen Gelände abgestützt war.
Es mag Zufall sein, dass sich Ferdls Weg an jenem Tag mit der Unglücksstelle kreuzte, dass aber ausgerechnet er die leblose Frau fand, schon weniger. Seine Wanderungen sind eben mehr als bloße Spaziergänge. Schon seit jeher ist es die Natur, die ihn mit all ihren Besonderheiten fasziniert, geprägt auch von seinem Vater, Berufsjäger im Halltal, der ihn schon als Kind mit auf die Jagd nahm, er mit 8 Jahren seinen ersten Bock erlegen durfte. Diese Faszination ist bis heute ungebrochen, mit der Zeit eignete er sich ein Wissen an, das manchem Jagdprüfer zur Ehre gereichen würde (abgelegte Jagdprüfung1991).
Dem heute 60jährigen Naturburschen fiel es allerdings nie leicht, sich immer und überall einzuordnen in das geltende Allgemeine, in die Welt der korrekten Abläufe von Arbeit und Freizeit, einer Gesellschaft, von moderierenden Persönlichkeiten vorgeregelt. Freilich musste er auch erfahren, dass sich Unabhängigkeit ins Gegenteil verkehren kann, wenn Existenzsorgen neue Abhängigkeiten schaffen. Er empfindet immer noch große Dankbarkeit gegenüber der Gemeinde, die ihn an einem Tiefpunkt seines Lebens in ihr soziales Netzwerk auffing, für Arbeit und Unterkunft sorgte. Als eine Krankheit, die für wochenlange Aufenthalte in der Neurologie sorgte, ein risikoloses Arbeiten nicht mehr zu ermöglichen schien, wurde er 2014 pensioniert.
Nun, mit seinem persönlichen Mix aus Freiheit und Sicherheit sowie einem angemessenen Cocktail an Medikamenten, scheint er nach manchen Irrwegen auch den richtigen Pfad durch den Dschungel des Leben gefunden zu haben – als ein Mann, bei dem der archaische Jagdtrieb noch nicht verkümmert zu sein scheint oder umgepolt in die Jagd nach schnellem Geld und schnelleren Autos, größeren Behausungen, Südseeurlaub, Luxuspension oder öffentlicher Beweihräucherung.
Möge uns der Ferdl auch noch lange mit seinen grandiosen Naturaufnahmen, die er als Resultat seiner Wanderungen beinahe täglich ins Internet stellt, erfreuen.