Anlässlich eines Besuches in Mils hat der Wiener Kunsthistoriker Dr. Arthur Saliger eine „Stil-Analyse“ der Ölbergruppe versucht. Diese beinhaltet einige interessante Aspekte, insbesondere die zeitliche Zuordnung. Die bisher bekannten Quellen sprechen von einem spätgotischem Werk um 1510, Dr. Saliger nennt die Mitte des 15. Jahrhunderts als plausibel.
DER ÖLBERG IN MILS – Versuch einer Stil-Analyse eines europäischen Meisterwerks
Arthur Saliger, Wien
Schon ein erster Blick auf die in Zirben-Holz geschnitzte polychromierte Skulpturen-Gruppe des am Ölberg betenden Jesus und seiner schlafenden Jünger in der ehemaligen St. Anna-Kapelle im nordtirolischen Mils erweckt – nicht zuletzt dank der idealen Licht-Verhältnisse im Raum – den tatsächlich irrigen Eindruck, als wäre diese Gruppe just für diesen sakralen Innenraum geschaffen worden. Nachdem diese Kapelle 1511 von Peter Kremer als ein Spätwerk der Haller Bauhütte errichtet wurde und die in ihrer künstlerischen Qualität tatsächlich überwältigende Skulpturen-Gruppe dort derartig probat „passend“ wirkt, mag die geläufige Datierung dieser Figuren mit der maximilianischen Zeit, als speziell Innsbruck vielfach bevorzugte Hofhaltung von Kaiser Maximilian I. war, motiviert gewesen sein – so ferne sie überhaupt in der kunsthistorischen Forschung, außer der Würdigung ob ihrer singulären Qualität, wahrgenommen worden ist. Es ist daher nicht nur „wünschenswert“, sondern de facto „obligat“, dass endlich diesem skulpturalen Ensemble die wissenschaftliche Erforschung zuteil würde. Angesichts der hervorragenden und beispielgebenden Initiative, die seitens der Ortsgemeinde von Mils hinsichtlich der ausgezeichneten Restaurierung der ehemaligen Anna-Kapelle zuteil werden ließ, darf – nicht zuletzt dank der Nähe zur Universitätsstadt Innsbruck – nunmehr jene Akribie im wissenschaftlichen Bereich endlich erwartet werden, die von der Gemeinde Mils hinsichtlich der Konservierungs-Maßnahmen geleistet worden ist!
Bisherige Zuschreibungen gar an Veit Stoss, oder auch an Gilg Sesselschreiber haben ebensowenig überzeugen können wie die zeitliche Ansetzung an die Dürer-Zeit unter Hinweis auf dessen graphische Holzschnitt-Bilderfolge der Passion Christi, zumal weder deren Haltungs-Motive in der figuralen Wiedergabe, noch gar das dortige haptische Verhältnis der expressiven Gliedmaßen zu den Spannungs-intensiven Gewandfalten mit ihren Kräuselungen und Stössen, jedenfalls im dürerischen Formen-Repertoir gegebenen virulenten Figurationen in der Ölberg-Gruppe in Mils auch nicht einmal im Ansatz gegeben ist! Lukas Madersbacher, der den Gewand-Stil dieser Ölberg-Gruppe als „in harten Graten über den Körper schwingenden Faltenfahnen“ treffend bezeichnet, kommt das Verdienst zu, erkannt zu haben, dass eben die heute in Mils befindliche Ölberg-Gruppe ein Fremdkörper nicht nur in Tirol, sondern im gesamten süddeutschen Sprachraum ist. Umso dringlicher – und zugegebener Maßen desto komplizierter – wird sich eine spezifisch kunsthistorische Einordnung durchführen lassen können. Nachdem archivalische Quellen dank ihres Fehlens – bzw. ihres „noch nicht erfolgten Entdeckens“ – zur künstlerischen Entstehung dieses Figuren-Ensembles nicht hilfreich sein können, bedarf es einer aus stilkritischen Analysen vorzunehmende, deduktiv aus den Stil-Formen resultierender Charakteristik, um eine zumindest vorläufige Bestands-Aufnahme darzulegen.
Abweichend von den seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts beständigen Tradition von gemalten und reliefierten Ölberg-Szenen, wie übrigens auch in Dürers Holzschnitt-Folge, wo Christus oberhalb der drei schlafenden Apostel auf jeweils einer eigenen Terrain-Stufe postamentiert ist, sind in der Ölberg-Szene in Mils sowohl der in auffallend steiler Haltung gegebene kniende Christus, als auch die in kauernden Posen verharrenden Aposteln auf dem gleichen felsigen Grund, also in gleicher Höhe, angeordnet vorzufinden. In dieser vor allem für die früh-neuzeitlichen themengleichen Versionen verbindlichen Kompositions-Weise folgt die Figuren-Anordnung in Mils einer Darstellungs-Form, wie sie in der steinernen Ölberg-Gruppe, die im vierten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts für die Moritz-Kirche im mährischen Olmütz unter unleugbarem altniederländischen Einfluss entstanden ist (heute im Dom- und Diözesanmuseum im Propsteihof in Olmütz daselbst) und um 1470 im gleichfalls mährischen Mödritsch (Modrice) südlich von Brünn (heute in der Mährischen Galerie im ehemaligen Augustiner-Eremitenkloster in Brünn) unter gleichfalls neuerlichem altniederländischen Einfluss (diesmal durch die Tätigkeit von Niclaes Gerhaert van Leyden geprägt) ein nachfolgendes Ensemble anzubieten hat. Es interessiert in diesem Kontext, dass diese Darstellungsweise in den genannten mährischen Beispielen ihren entwicklungsgeschichtlichen „Ahnherrn“ in einer nach-eyckischen Buchmalerei im in den figuralen Szenen nie vollendeten Stundenbuch des Herzogs Jean de Berry haben, für den die – von Hulin de Loo als Hand G bezeichneten – sieben Miniaturen mit der Tätigkeit der Brüder van Eyck in Bezug gebracht werden, die mit Otto Pächt glaubhaft als um 1416 entstandenes Werk von Hubert van Eyck interpretiert werden. Diese Ölberg-Darstellung in der genannten Handschrift findet sich in einer Wandmalerei am Triumphbogen der Salzburger Franziskanerkirche repliziert, wobei eben diese Malerei mit der Tätigkeit von Conrad Laib verlässlich in Verbbindung gebracht wird. Haben zumindest die Skulpturen in Olmütz jeweils „ihren“ individuellen „eigenen“ felsigen Sockel und daher kein durchgehendes gemeinsames Terrain, so zeigt sich in Mils ein solches als einheitliche horizontale felsige Formation, die für alle Figuren – also sowohl für den ganz rechts knienden Christus, als auch für die homogene, kompakt geschlossen wirkende Gruppe der drei schlafenden Apostel – , verbindlich ist. Abweichend von Olmütz und von Mödritsch, wo die Jünger in sich zusammenkauernd individuell als Einzelfiguren gegeben sind, haben die thematisch identen Aposteln in Mils jeweils auf ihre Konturen abgestimmte bizarre Felskulissen als haptische Lehne. Diese gestalterische Synchronie von inhaltlich nicht unbedingt verbundenen Bild-Inhalten – wie sie in Tirol bei dem 1458 vollendeten Sterzinger Altar des Ulmer Malers und Bildhauers Hans Multscher in der dortigen Ölberg-Szene in der formalen Anpassung der landschaftlichen Terrain-Kanten an die Schädel-Kalotten der schlafenden Apostel gleichfalls auftauchen – gemahnt an die epochale Studie Otto Pächts zu den „Gestaltungsprinzipien der westeuropäischen Malerei im 15. Jahrhundert“ (1935, im Reprint in Otto Pächt, Methodisches zuir kunstgeschichtlichen Praxis“, München Prestel 1977) und ist im Ölberg in Mils entsprechend nachhaltig wirksam. Somit findet sich in Mils eine deutliche Unterscheidung zwischen der isolierten Wiedergabe des bange betenden, also wachen, Christus einerseits und der zumindest drei Viertel der gesamten Gruppe einnehmenden schlafenden Apostel andererseits! Dieser inhaltliche Gegensatz könnte in seinem drastischen Stimmungs-Gehalt kaum nachdrücklicher formuliert worden sein: Aktivität – signalisiert durch die Bethaltung Christi – und Passivität – formuliert durch die drei individuell in den Schlaf-Posen unterschiedenen dicht aneinander gedrängt abfolgend gegebenen Jünger – finden sich in einer außergewöhnlich gestalteten Konfrontation vor! Eine in ihrer betont vertikalen, aufrechten Körper-Haltung dominierenden Figur – eben Christus als rechtes Ende des Figuren-Ensembles – wendet sich in für eine Ölberg-Szene erstaunlich steilen Rücken-Haltung von der in gedrungener Kompaktheit unterschiedlich somnambulen geschlossenen Gruppe der Jünger markant ab. Die inhaltliche Unbeteiligung der inbrünstig schlafend wiedergegebenen Apostel an dem hingebungsvoll bangen Gebet Christi – dessen Oranten-Haltung der ausgebreiteten Arme und der erhobenen Hände geradezu zelebrierend wirkt – geriert sich quasi als „Zustands-Protokoll“ in den spezifischen „Stimmungs“-Werten! Die auffallende formale „Geschlossenheit“ der Schlafenden bildet auch kompositionell einen dominierend „horizontal“ sich manifestierenden Kontrast zu Christus. Der sonst vielfach beiläufige Aspekt der schlafenden Jünger (im 14. Jahrhundert daher auch im Geiste der mentalen und traditionellen Bedeutungs-Perspektive vielfach „kleiner“ dargestellt) gebärdet sich in Mils als maßvoll-voluminöser Kontra-Part. Nebeneinander, jedoch individuell differenziert angeordnet bilden die Apostel in Mils eine dergestalt „geschlossene“ Gruppe, dass sie einem stumpfwinkeligen Tympanon (=Giebelferld) integriert werden könnten: Tatsächlich suggeriert der linke in Bild-aufwärts gegebener Schräglage verharrende Jakobus die assoziative Anomalie zu einem linken Giebel-Schenkel, während die wie breitflächig „hingegossen“ sich in versunkener Haltung gerierende Petrus-Figur rechts demnach zu einem rechten Giebel-Schenkel korriliert; die zentrale – also mittig angeordnete – Johannes-Figur konzentriert in ihrer in sich verschlungenen, in markanten Achsen-Verschiebungen sich äußernden Positionen seiner Gliedmaßen nicht nur die vektoriellen Indikatoren seiner beiderseitigen Nachbar-Figuren (Jakobus links, Petrus rechts), sondern er offenbart sich – trotz der vergleichsweise geringsten Breiten-Entfaltung in der projektiven Sicht – dennoch als kompositionelles Zentrum im „vermeinten Tympanon“. Trotz dieser soeben geschilderten Charakterisierung hinsichtlich der apostrophierten Assoziation zum Phänomen des Tympanons darf nicht ignoriert werden, dass Johannes nicht die für ein Tympanon obligate „Spitze des Dreiecks“ einnimmt: Es besteht hingegen eine fiktive „fallende Kadenz“ bei den Schädel-Kalotten der Aposteln. Eine „ideale“ Tangente, die von der Schädeldecke des Petrus, an diese vermeint angelegt, über diejenige des Johannes verlaufend und schließlich bei Jakobus endend, ergäbe eine von rechts oben (Haupt des Petrus) nach links unten (über das Haupt des Johannes zu demjenigen des Jakobus) sanft abfallenden Linienzug. Eine gleichfalls ideale ansteigende Fortsetzung desselben nach rechts zu zielte nicht – wie allenthalben erwartet werden könnte – auf das Haupt Christi, sondern bestenfalls auf dessen betenden Hände; so sehr dominiert die vertikale Körper-Haltung Christi gegenüber der dominierend horizonbtal „lastenden“ Gruppe der schlafenden Aposteln.
Ist diese dargelegte Komposition in ihrem proportionalen Kanon nach aktuellem Wissenstand ohne vergleichbarem Beispiel begriffen, so zeigen sich in der stilistischen Beschaffenheit hinsichtlich der Artikulierungen der Haltungs-Motive und bezüglich der physiognomischen Ausdrucks-Valeurs solche bildliche Ausdrucks-Faktoren, die kein primär handelndes Geschehen, sondern die optische Vermittlung von psychischen Zuständen zum Bild-Gegenstand haben! Just diese innerbildliche Darstellungs-Komponente ist am besten geeignet, das genuine künstlerische Milieu, unter dessen Einfluss das vorliegende Bildwerk entstanden sein mag, auszuforschen. Einige detaillierende Beschreibungen mögen hierzu hilfreich sein: Das müde zur Seite geneigte, von runzeligen Stirnfalten durchfurchte Haupt des Petrus weist mittels seines offenen Mundes die ausatmende Funktion des Schlaf-Zustands ebenso aus wie das bloß an seine Brust gelehnte Schwert als nicht gehaltenes Stillleben keinerlei Hinweise auf eine einstige Aktivität beinhaltet wie analog die im schlaffen Herabgleiten verharrenden Hände. Dieser somnambulen Hingabe der Inaktivität geht das effektiv im Fallen begriffene Herabgleiten und im empirischen Aufliegen des in seinem stofflichen Habitus geschilderten Gewands artverwandt einher. Es findet sich in dem charakterisierenden Schildern ob der Beschaffenheit des Gewands nicht die geringste „figurative“ Konstruktion einer formbildenden Gestaltungs-Gesinnung vor, sondern die Formgebung des Gewands erklärt sich als Reaktion auf den in seinem „in sich versunken Sein“ des im hingebungsvollen Schlaf verharrenden Körpers, wobei die physische Schwerkraft dank des in seiner Stofflichkeit artikulierten Habitus´ beschaffenen Gewands seine Autonomie im auf den Körper geschmeidig reagierenden Fallen ausdrückt. Diese gestalterische individuelle Komponente, die jegliche Formelhaftigkeit vermeidet, ist bei allen Figuren in diesem Ensemble wirksam befolgt worden und nimmt eben auf die spezifischen Haltungs-Gegebenheiten adäquaten Bedacht. Gesondert ist auf die sich in höchst intensiver Achsenverschiebung gerierende, „Schrauben“-förmige Haltung des Johannes hinzuweisen, dessen beide in extrem abgewinkelten Posen verharrende Arme in projektiver Sicht sein Haupt scheinbar tangential umgeben und zugleich in der räumlichen Konsistenz als probates und vermeintes „Kissen“ dienen. Bei dem mittels seines linken Arms abgestützten Haupt des Jakobus fällt vor allem seine rechte Hand auf, in der er ein Buch festzuhalten scheint, das jedoch dank des Erschlaffens seiner betreffenden Hand im nächsten Augenblick herab zu fallen scheint: Eine fragile Phase eines drohenden transitorischen Vorganges ist in seiner augenblicklichen Zuständlichkeit bildlich darstellerisch festgehalten worden. Obwohl Christus in betont wachem, jedoch intensiv bangen Zustand gegeben ist, zeigt sich seine Bethaltung – trotz vibrierender Assoziation, die durch die triefende Oberflächen-Beschaffenheit durch die Falten-Formation der Ärmel gefördert wird – in zelebrierender Würde, wie auch seine erregte Mimik in banger erwartungsvoller Zuständlichkeit gegeben ist. Eben die Form der Ärmelfalten mag mitunter zur Annahme einer Entstehung im frühen 16. Jahrhundert irriger Weise verleitet haben, jedoch sollte das Fallen des Gewandes und sein deutlich auflastendes Aufliegen an der Boden-Angabe – zum großen Unterschied zum Laken-artigen Auslauf der Gewand-Wiedergaben in der Ölberg-Szene Multschers in Sterzing – die Stil-Gepflogenheiten aus der Mitte des 15. Jahrhunderts verdeutlichen. Auch die formale Synchronie der kurvigen Saum-Linien in den Gewändern der Apostel zu deren Körper-Konturen festigen nicht nur die Empirie im Duktus der Bekleidung, sondern tragen zum verfestigenden Charakter der Figuren-Körper entscheidend bei.
Freilich ließen sich die marginal angeführten Beobachtungen zur Stil-Charakterisierung ausführlicher weiter führen und präzisierende Einordnungs-Kriterien anführen, was gewiss noch genauer anzustellenden Studien vorbehalten bleiben muss. Jedenfalls ist aus den angeführten Feststellungen und Vergleichen – zumindest vorläufig – als Schluss-Folgerung zu erkennen, dass just die Konzentration auf multiple Zuständlichkeiten letztendlich auf epochale entwicklungsgeschichtliche Errungenschaften der altniederländischen Malerei in der Nachfolge des 1441 verstorbenen Malers Jan van Eyck zu verorten sind, wodurch sich die Datierung des Ölbergs von Mils gegenüber den bisherigen vermuteten Angaben um als bis zu beinahe einem halben Jahrhundert, aber zumindest um einige Jahrzehnte, also in jedem Fall als wesentlich früher entstanden ausweist.