KOPIEN aus: Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934 – 1945 Bd.1
V. „EUTHANASIE“ UND ZWANGSSTERILISIERUNG“
Gretl Köfler
Bei diesem Themenkreis erscheint es notwendig, näher auf die Quellenlage einzugehen. Da die Tötung geistig Behinderter eine von der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ in Berlin zentral gelenkte und sehr geheim gehaltene Aktion darstellte, sind die Akten im lokalen Bereich ‑soweit überhaupt angelegt – zum großen Teil vor Kriegsende vernichtet worden. Für Tirol stammen fast alle Angaben aus Ermittlungsverfahren und Prozessen gegen drei beteiligte Ärzte: Dr. Hans Czermak, Leiter des Gauamtes für Volksgesundheit (1949 zu acht Jahren schweren Kerkers verurteilt), Dr. Josef Vonbun, Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Valduna (die Ermittlungen gegen ihn wurden 1966 von der Staatsanwaltschaft Konstanz eingestellt) und Dr. Georg Renno, Arzt in Niedernhart und Hartheim (das Verfahren gegen ihn wurde 1970 von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt). Manches, was den Historiker heute interessiert, blieb von den Ermittlungsbehörden unberücksichtigt. Manche Aussagen konnten und können nicht verifiziert werden, da die meisten Beteiligten bereits verstorben sind. Während der Ermittlungen gegen Dr. Hans Czermak wurden auch Akten des Gauamtes für Volksgesundheit herangezogen, deren Einsichtnahme heute von der Tiroler Landesregierung unter Berufung auf das Datenschutzgesetz abgelehnt wird. Aus demselben Grund konnten auch die Akten der Gesundheitsämter und des Erbgesundheitsgerichtes, die über die Zwangssterilisierungen Auskunft geben und heute im Tiroler Landesarchiv liegen, nicht benützt werden.
Die Zwangssterilisierungen stützten sich auf das (reichsdeutsche) Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. Demnach konnte zwangssterilisiert werden, wenn nach „Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft“ mit großer Wahrscheinlichkeit folgende schwere Erbschäden bei den Nachkommen zu erwarten waren: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressives Irresein, erbliche Fallsucht, erbliche Blindheit und Taubheit, schwere körperliche Mißbildungen, Alkoholismus. Doch ist in Tirol die Zwangssterilisierung zumindest eines Mannes bekannt, der bereits ein völlig normales Kind gezeugt hatte.
Der Antrag auf Zwangssterilisierung konnte von verschiedenen Stellen ausgehen: bei Wehrpflichtigen von Truppenärzten, bei Pflegebedürftigen von den Heil- und Pflegeanstalten, von den Gesundheitsämtern, falls der Betroffene ein Erbgesundheitszeugnis zur Eheschließung benötigte. Zur Einleitung des „Antrages auf Unfruchtbarmachung“ bedurfte es einer längeren behördlichen Prozedur, die zumeist über das zuständige Gesundheitsamt abgewickelt wurde. Benötigt wurden: ein Intelligenzprüfungsbogen, der ausgesprochen schwierige Wissensfragen enthielt, das Abgangszeugnis der Schule, auch wenn die Schulzeit schon Jahrzehnte zurücklag, eine Sippentafel, die Namen, Geburts- und Sterbedaten, Religion, Eheschließungen, Wohnort, Berufe, Todesursachen, Krankheiten, soziales Verhalten und Begabungen von Geschwistern, Eltern und Großeltern enthielt. Auskünfte wurden auch eingeholt vom zuständigen Gemeindeamt, vom Arbeitgeber, vom behandelnden Arzt des Betroffenen. Die gesammelten Unterlagen wurden vom Gesundheitsamt an das Erbgesundheitsgericht zusammen mit einem Antrag auf Unfruchtbarmachung weitergereicht, der der Zustimmung des Gauleiters bedurfte. Das Erbgesundheitsgericht in Innsbruck in der Michael-GaismayrStraße, dem drei Personen angehörten (Ärzte und Juristen), verhandelte nicht-öffentlich und entschied sofort. Als Vertreter des Betroffenen wurde ein Kurator, zumeist ein Verwandter, bestellt, der der Verhandlung mit dem Betroffenen beiwohnen mußte. Es bestand die Möglichkeit, innerhalb von drei Wochen beim Erbgesundheitsobergericht beim Oberlandesgericht Rekurs einzulegen. Geschah das nicht, besorgte das Gesundheitsamt einen Termin im Krankenhaus und ließ den Betroffenen, falls er sich der Operation nicht freiwillig unterzog, zwangseinweisen.
Empörten sich gegen solche Übergriffe nur die Betroffenen, sofern sie dazu in der Lage waren, so protestierten gegen die Tötung psychisch Kranker Ärzte, Angehörige und Betreuer, insbesondere die Ordensschwestern. Im Reichsgau Tirol-Vorarlberg bestanden zwei große Heil- und Pflegeanstalten, Hall in Tirol und Valduna. Daneben gab es eine Reihe kleinere, von Ordensschwestern geführte Alters- und Pflegeheime, die sogenannten Versorgungshäuser. Sie alle wurden im Oktober 1939 beauftragt, Meldebogen über ihre Pfleglinge an die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ in Berlin abzuführen. Im August 1940 erschien in Hall Dr. Friedrich Mennecke, Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg und einer der führenden Euthanasieärzte (1946 zum Tod verurteilt, Selbstmord in der Haft), mit mehreren Medizinstudenten und sichtete die Krankengeschichten aller Patienten. Aufgrund dieser Unterlagen wurden in der Berliner Zentrale die zur Tötung bestimmten Pfleglinge von drei Gutachtern ausgewählt. Die Zahl dieser Gutachter betrug für ganz Deutschland ca. 25, es waren durchwegs Ärzte deutscher Heilanstalten und Kliniken, und Dr. Mennecke war einer von ihnen. (2) Die Liste mit den Namen der Opfer aus Tirol und Vorarlberg ging nach Hartheim (Oberösterreich), in die einzige österreichische Tötungsanstalt. (3) Zwecks Geheimhaltung der Aktion war der Abtransport der Opfer als „Verlegung“ in eine andere Anstalt getarnt, und die Angehörigen wurden entsprechend verständigt. In Tirol waren offiziell nur Dr. Hans Czermak und Gauleiter Franz Hofer über den wahren Zweck der Transporte unterrichtet. Doch waren bereits entsprechende Gerüchte in Umlauf, sodaß der Primar von Hall, Dr. Ernst Klebelsberg, und verschiedene Heimleiterinnen mit Mißtrauen reagierten, als sie mit den ersten Transportlisten konfrontiert wurden. Am 10. Dezember 1940 sollte der erste Transport unter Leitung des Hartheimer Arztes Dr. Georg Renno vom St. Josefsinstitut in Mils und von Hall abgehen. Durch Intervention von Dr. Klebelsberg und Prof. Helmut Scharfetter, dem Leiter der Nervenklinik an der Innsbrucker Universitätsklinik, bei Dr. Czermak und Gauleiter Hofer gelang es, zumindest die arbeitsfähigen Patienten vom Transport zurückzuhalten, zumal die Auswahl der Kranken äußerst willkürlich erfolgt war. Aus Mils wurden von den angeforderten 122 Pfleglingen nur 67 überstellt, aus Hall 179 von 291. Die Patienten von Imst, Nassereith und Ried i. 0. kamen zuerst nach Hall und dann weiter nach Niedernhart. Insgesamt wurden folgende Transporte dorthin durchgeführt:
am 10. 12. 1940 von Hall 179 von Mils 67 am 20. 3. 1941 von Hall 92 am 23. 5. 1941 von Mariathal bei Kramsach 61 am 29. 5. 1941 von Hall 27 am 31. 8. 1942 von Hall 60 am 10. 2. 1941 von Valduna 132 am 17. 3. 1941 von Valduna 88
Insgesamt wurden 706 Personen abtransportiert. Der Prozentsatz der Überlebenden blieb unbekannt, da in vielen Fällen nach dem Krieg keine Angehörigen mehr ausfindig gemacht werden konnten. Niedernhart diente als Durchgangsstation, die meisten Patienten kamen dann nach Hartheim, einige starben in anderen Heimen. Falls das Datum des letzten Transportes von Hall – 31. August 1942 – stimmt, wurde dieser Transport erst ein Jahr nach der Beendigung des Euthanasieprogramms durchgeführt und somit wohl nicht mehr von Berlin angeordnet, sondern gemeinsam von Dr. Czermak und vom Hartheimer Tötungsarzt Dr. Rudolf Lonauer (beging bei Kriegsende Selbstmord) in die Wege geleitet. In Tirol wurden nicht alle angeforderten Pfleglinge überstellt, manche angeordneten Transporte gar nicht durchgeführt. Weder aus den Innsbrucker Pflegeheimen noch aus dem Kinderheim Scharnitz wurden Patienten abgegeben. Dank des Widerstandes von Ärzten, insbesondere Dr. Klebelsberg, Heimleiterinnen und mancher Behörden entgingen so ca. 300 Pfleglinge dem drohenden Tod. Im Jahr 1942 kam Dr. Rudolf Lonauer selbst nach Hall, um die Möglichkeit zur Einrichtung einer Tötungsanstalt ebenda zu prüfen. Dr. Klebelsberg versuchte, ihn von der Unmöglichkeit der Geheimhaltung zu überzeugen, und Dr. Lonauer nahm von diesem Plan Abstand.
Je häufiger im Laufe des Jahres 1941 die Todesnachrichten bei den Angehörigen eintrafen, desto vehementer wurden die Proteste. Selbst die Betroffenen erfuhren von ihrem bevorstehenden Schicksal. So bat Irene Marettich, eine Haller Patientin, ihren Vormund, sie vor der drohenden „Verurnung“ zu retten – vergebens, sie war bereits beim ersten Transport dabei. Viele Angehörige, auch Parteimitglieder, beschwerten sich bitter bei Ärzten, Bürgermeistern, der Parteiführung. Andere versuchten, ihre Verwandten aus den Anstalten nach Hause zu holen, was auch Dr. Klebelsberg unterstützte, obwohl Patienten, die auf den Listen standen, nicht mehr entlassen werden durften.
14. AUS: SCHREIBEN DES LEITERS DER HEIL- UND PFLEGEANSTALT NIEDERNHART, RUDOLF LONAUER, AN DEN LEITER DES GAUAMTES FÜR VOLKSGESUNDHEIT IN TIROL-VORARLBERG, HANS CZERMAK, BETREFFEND TRANSPORTE AUS TIROL, 4. 4. 1941
LG Innsbruck, 10 Vr 4740/47 DÖW 11.440
Beiliegend übersende ich Ihnen die gewünschte Aufstellung über unsere Transporte aus Tirol und teile Ihnen gleichzeitig mit, daß wir wahrscheinlich erst Mitte Mai weitere Transporte von Ihnen abholen. Ich werde Sie dann noch rechtzeitig verständigen.
Datum | Anstalt | insgesamt | Männer | Frauen |
10.12.40 | Hall | 66 | 17 | 49 |
10.12.40 | Mils | 54 | 18 | 36 |
11.12.40 | Hall | 113 | 94 | 19 |
11.12.40 | Mils | 12 | 2 | 10 |
11.02.41 | Valduna | 132 | 57 | 75 |
18.03.41 | Valduna | 86 | 37 | 49 |
21.03.41 | Hall | 60 | 40 | 20 |
21.03.41 | Nassereith | 20 | 1 | 19 |
21.03.41 | Valduna | 1 | 1 | |
21.03.41 | Imst | 12 | 12 | |
556 | 279 | 277 |
AUS: ZEUGENAUSSAGE VON SR. ERHARDA HENDLMAIER VOM ST.
JOSEFSINSTITUT IN MILS VOR DER BUNDESPOLIZEIDIREKTION INNSBRUCK BETREFFEND ABTRANSPORT VON PFLEGLINGEN, 23. 5. 1946
LG Innsbruck, 10 Vr 4740/47 DÖW 11.440
Ich war damals im Institut in Mils hauptsächlich in der Kanzlei beschäftigt und mußte auch die schwerkranke Schwester Oberin vertreten. Von einer Stelle in Berlin erging damals der Auftrag, alle Pfleglinge der Anstalt auf vorgedruckten Formularen zu erfassen. Ich kann mich aber nicht mehr genau erinnern, ob diese ausgefüllten Formulare damals dann direkt nach Berlin oder an das Landesgesundheitsamt eingesandt werden mußten. Anfang Dezember 1940 kamen dann zwei eingeschriebene Briefe aus Berlin, und jeder Brief enthielt eine Transportliste und Zuschriften, daß die auf der Liste aufscheinenden Patienten in andere Anstalten überstellt werden. Zusammen waren auf beiden Transportlisten 122 Pfleglinge namentlich angeführt. Wir dachten uns gleich, was hier los sein könnte, da man schon verschiedentlich gehört hatte, daß diese geistesschwachen Leute absichtlich ins Jenseits befördert werden sollen. Ich begab mich gleich nach Innsbruck zu Monsignore Weisskopf. Dieser riet mir, wir sollen sogleich die Angehörigen der Pfleglinge verständigen. Dies wurde aber dann aus einem mir nicht bekannten Grunde unterlassen. Gleich, und zwar glaublich am folgenden Tag, begab ich mich zum Leiter des Landesgesundheitsamtes, Dr. Czermak, nach Innsbruck. Vorher habe ich aus der Transportliste alle jene Pfleglinge herausgeschrieben, die wir zur Arbeit dringend benötigten und /die/ auch arbeiten konnten. Ich habe Dr. Czermak ersucht, daß wir wenigstens diese Leute im Institut behalten können, und hiezu hat er mir auch die mündliche Erlaubnis erteilt. Glaublich am nächsten Tag erschienen Dr. Czermak und ein Arzt aus Berlin oder Wien im Institut, auch Primarius Dr. Klebelsberg der Pflegeanstalt Hall befand sich in dessen Begleitung. Von den drei Herren wurden einige Kranke damals auch angesehen. Am folgenden Tag kam Dr. Czermak wieder allein in das Institut und hat dort einige Pfleglinge, die gut aussahen, fotographiert, und hiezu mußten wir sie ihm noch gut herrichten und anständig kleiden. Dr. Czermak äußerte sich hiebei, er müsse Bilder von angeforderten Pfleglingen nach Berlin schicken, damit er beweisen könne, daß Pfleglinge, die nicht stark geisteskrank sind, ausgesucht und hier belassen würden.
Nach einiger Zeit kam wieder ein Schreiben, von wo es kam, weiß ich nicht mehr, und auf Grund dieses Schreibens mußten die in einer Liste aufgeführ-
ten Pfleglinge transportbereit gemacht werden. Es mußten auch die Personalien dieser Personen angeführt und ein Verzeichnis über ihre Effekten erstellt werden, und zwar für jeden Pflegling gesondert. Am Morgen des 10. 12. 1940 noch zur Dunkelheit erschienen zwei große Omnibusse und auch Personal, und die Pfleglinge wurden verladen und zum Bahnhof Hall gebracht. Uns sagte man, daß der Transport vorläufig nur bis Salzburg gehe.
Bemerken möchte ich, daß am Tage vor Abgehen des Transportes der bekannte Professor Kogler, dessen Tochter sich auch als Pflegling hier befand, seine Tochter besuchte und auch Dr. Czermak damals mit einem Auto hier war, und Czermak den Professor Kogler eingeladen hatte, mit ihm im Auto nach Innsbruck zu fahren und auch gefahren ist, ohne ihm etwas zu sagen, daß seine Tochter am nächsten Tag wegkomme, und sich Professor Kogler nachträglich über diese Gemeinheit besonders aufgeregt hat. Am 11. 12. 1940, also am Tage nach Abgehen des Transportes, wurde aus der Pflegeanstalt Hartheim bei Linz hier fernmündlich angerufen, daß während des Transportes das Effektenverzeichnis verloren gegangen sei, und es wurde ein neues Verzeichnis angefordert.
/Beilage/
Verzeichnis der am 10. Dezember 1940 aus dem St. Josefsinstitut in Mils bei Hall i. T. abtransportierten Pfleglinge (nach Niedernhart bei Linz a. D.)
35. AUS: BERICHT DES GENDARMERIEPOSTENKOMMANDOS HAIMING AN DAS BEZIRKSGENDARMERIEKOMMANDO IMST BETREFFEND DEN EHEMALIGEN KREISLEITER KLAUS MAHNERT, 19. 9. 1947
LG Innsbruck, 10 Vr 1439/46 DÖW E 18.624
Nach Angabe des in Haiming Nr. Kinderheim /sic!/ wohnhaften Wendelin Leitner wurden die geisteskranken Brüder Johann und Anton Leitner, geb. am 18. 6. 1917 und 22. 8. 1913, Söhne des Johann und der Anna Maria Leitner, geb. Stigger, im Mai 1939 in die Irrenanstalt nach Mils bei Hall gebracht. Nach etwa einem Jahre wurden sie von dort nach Mariathal bei Kramsach untergebracht, von dort sie nach Hartheim, Oberösterreich, eingewiesen wurden.
Von der Landesanstalt Hartheim traf mit Tagebuch Nr. 21765/21803/Tha, v. 11. 6. 1941 an Frau Maria Leitner die schriftliche Nachricht ein, daß ihre zwei Söhne, und zwar Anton Leitner am 10. 6. 1941 um 23,20 Uhr und Johann Leitner am 11. 6. 1941 um 3.55 Uhr, infolge Ruhr- und Kreislaufschwäche gestorben sind.
Dieses Schreiben befindet sich noch in Händen der Maria Leitner in Haiming. Wendelin Leitner gab hiezu noch an, daß die Abgabe seinerzeit der Gebrüder Leitner von der Kreisleitung in Imst veranlaßt worden sei.